Interview mit Dr. Gerald Hüther – Für die Entfaltung der Potenziale jedes Menschen

Interview mit Dr. Gerald Hüther – Für die Entfaltung der Potenziale jedes Menschen

12. Oktober 2019 0 Von Madita Hänsch

Dr. Gerald Hüther ist Neurowissenschaftler und Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung. Mit zahlreichen populärwissenschaftlichen Büchern hat er den öffentlichen Diskurs über die Zukunft der Bildung aufgerüttelt. Seine Vorträge sind grundsätzlich ausgebucht. Seine Theorien revolutionieren die Bildungsforschung. Seine Vision ist mir ein Wegweiser und ich bin dankbar, dass er sich für ein Interview mit mir die Zeit nahm:

Herr Hüther, könnten Sie Ihre Vision zur Bildung als Potentialentfaltung für meine Leser, die Sie noch noch nicht kennen, zusammenfassen?

Die Hirnforscher haben ja in den letzten Jahren herausgefunden, dass die Expression der genetischen Programme des Menschen zur Bereitstellung eines Überschusses an Nervenzellen und Verknüpfungsangeboten im sich entwickelnden Gehirn führt. Es wird also mehr angelegt, als dann später an Konnektivität gebraucht und stabilisiert wird, vorgeburtlich in den subcorticalen, älteren Bereichen, nach der Geburt vor allem in den verschiedenen Gebieten des Cortex, insbesondere im Präfrontalkortex. Außerdem ist auch noch das Gehirn von Erwachsenen in der Lage, neue Verbindungen aufzubauen, in einigen Regionen sogar neue Nervenzellen zu generieren.

Beides zusammen bildet das Potential, das Spektrum an Möglichkeiten, das im menschlichen Gehirn angelegt ist. Um dieses Potential in Form von Talenten und Begabungen auch auch möglichst gut entfalten zu können, brauchen Kinder günstige Bedingungen. Oder, wie es in dem afrikanischen Sprichwort zum Ausdruck kommt, „ein ganzes Dorf“, also die Begegnung mit möglichst vielen und möglichst unterschiedlichen Menschen, von denen jeder und jede irgendetwas besonders gut kann. Wo jedes Kind jemand findet, mit dem es sich verbunden, bei dem es sich geborgen fühlt und der das Kind mit dem inspiriert, was er macht und womit er sich auskennt. Auch mit seiner Leidenschaft und seinen inneren Einstellungen und Haltungen. Kein Kind würde in so einer Gemeinschaft wie ein Objekt behandelt und zum Objekt der Erwartungen, Belehrungen, Bewertungen und Maßnahmen durch andere gemacht. Unter diesen Bedingungen ist die Entfaltung der in jedem einzelnen Kind angelegten Potentiale unvermeidbar.

Was gab Ihnen den Anstoß, der Sie auf Ihre Mission lenkte, für Ihre Vision zu werben?

Von diesem Idealzustand sind wir in unseren heutigen Gesellschaften ja noch weit entfernt. Deshalb habe ich die Akademie für Potentialentfaltung gegründet. Wir helfen Menschen, ihr Zusammenleben so zu gestalten, dass keiner den Anderen als Objekt behandelt. Das ist in unserer gegenwärtigen Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft nicht einfach, aber es geht.

Sie sind viel unterwegs, um Vorträge zu halten und begegnen dabei vielen Bildungskritikern, welchen Eindruck haben Sie, sind die häufigsten Kritikpunkte, die genannt werden?

Ich glaube nicht, dass sich die gegenwärtigen Verhältnisse, die Art des Zusammenlebens, des voneinander Lernens und des gemeinsamen Gestaltens durch Vorträge, Seminare oder Bücher grundlegend verändern lassen. Wichtiger scheinen mir die praktischen Beispiele des Gelingens, die deutlich machen, dass es geht und wie es gehen könnte. Da alle tiefgreifenden Veränderungen von der jeweils nachwachsenden Generation in Gang gesetzt werden, ist mir deren Bildung ein besonderes Anliegen. Dass ich mit meinen Vorschlägen, wie diese Bildung besser als bisher gelingen könnte, auf Vorbehalte und Einwände derjenigen stoße, die für die gegenwärtigen Zustände an unseren Bildungseinrichtungen verantwortlich sind, kann ich sehr gut verstehen. Dass sie mir Realitätsferne, Idealismus, mangelnde Sachkenntnis und unzulässige Übertragungen neurobiologischer Erkenntnisse auf das gegenwärtige Bildungssystem verwerfen, erstaunt mich nicht.

Wie reagieren Sie auf jene Menschen, die der Meinung sind, dass mit unserem Bildungssystem alles in Ordnung sei und es keinen Grund gäbe, etwas anders zu machen?

Ich bemühe mich darum, sie und ihre Argumente zu verstehen. Aus der Perspektive, von der aus sie dieses Bildungssystem betrachten, stimmt das ja auch alles. Veränderungsprozesse lassen sich aber nie mit denen umsetzen, die der Meinung sind, das alles so in Ordnung ist, wie es ist.

Da ich davon überzeugt bin, dass es grundlegender und tiefgreifender Veränderungen im Bildungsbereich bedarf, arbeite ich lieber mit all jenen zusammen, die diese Auffassung teilen. Alle Anderen halten diese Veränderungsprozesse nur auf. Sie müssen dann eben so weitermachen wie bisher, aber sie sollten aufhören, sich darüber zu beschweren, wenn es für sie immer schwerer wird.

Wenn ich Sie in einem Diskurs zitiere, bekomme ich manchmal die Reaktion, dass Ihre Arbeit zum Thema Bildung „in Fachkreisen nicht anerkannt“ sei. Während ich dann für Ihre Arbeit plädiere, bin ich neugierig, wie Sie selbst darauf reagieren würden?

Vielleicht ist es besser, wenn Sie mich in solchen Diskursen nicht zitieren und stattdessen lieber Ihre eigene Meinung und Überzeugung zum Ausdruck bringen. Dann wird es ihnen auch leichter fallen, ihren Standpunkt zu begründen. Genau das mache ich ja auch. Bezeichnenderweise erfahre ich Diskreditierungen aber nie von Angesicht zu Angesicht. Gemacht werden solche Äußerungen immer gegenüber Dritten. Das ist leider kein Zeugnis für eine Position der Stärke.

Was müsste das deutsche Bildungssystem im Kern anders machen, um Ihrer Vision gerecht zu werden?

Forderungen kann man ja nicht an ein System richten: Nur an diejenigen Personen, die für die Aufrechterhaltung dieses Systems sorgen. Und die würde ich sehr gern bitten, öffentlich zu bekennen, wozu und wem dieses von ihnen organisierte Bildungssystem dienen soll. Auch würde ich von ihnen gern erfahren, wie das Bildungsideal aussieht, das von ihnen angestrebt wird.

Und zum Abschluss, weil es aktuell die Menschen sehr bewegt: Wie beurteilen Sie den öffentlichen Diskurs zu Fridays for Future?

Da kann ich nur die Aussage des Leiters einer sehr bedeuteten Stiftung wiedergeben: „Nun haben wir in den letzten zwei Jahrzehnten hunderte Millionen Euro in Programme für die Stärkung eines Nachhaltigkeitsbewusstseins in der Öffentlichkeit und der Politik investiert. Und jetzt kommt diese Greta mit ihrer Friday-for-Future-Bewegung und erreicht in einem halben Jahr Dimensionen mehr als wir mit all unseren bisherigen Bemühungen. Und das auch noch kostenlos!“

Ich danke Ihnen vielmals für das Interview!