Chancen der Krise – Teil 2: Digitalisierung auf Probe

Chancen der Krise – Teil 2: Digitalisierung auf Probe

12. April 2020 0 Von Madita Hänsch

Diese Krise trifft uns schwer. Sie trifft uns mitten ins Herz. Und vor allem trifft sie jeden Einzelnen von uns auf der ganzen Welt. Doch sie bietet auch viel Potenzial: Zur Veränderung. Sie bietet uns viele Möglichkeiten, um endlich all die notwendigen Veränderungen unserer Systeme anzugehen. Denn sie deckt all die bisher für viele verborgen gebliebenen Fehler endgültig auf. Sie zeigt uns, worauf es wirklich ankommt im Leben – sie lässt es uns wahrhaftig spüren.

Die Krise betrifft jeden Einzelnen. Und sie betrifft alle Bereiche unserer Gesellschaft und jedes System, das wir aufgebaut haben bzw. das wir zu erhalten versuchen. Doch seit Jahrzehnten wissen einige Menschen, dass diese Systeme fehlerhaft sind. Der grundlegendste Fehler: Sie verweigern sich der Veränderung. Doch wir Menschen brauchen Veränderung. Wir müssen uns weiterentwickeln können. Wie Fromm es ausdrückt: Für den Menschen gibt es nur die Regression oder die Progression – Nur Vorwärts oder Rückwärts (Fromm, 1990: 129ff). Es kann keinen Stillstand geben.

Auch die Schwächen unseres Bildungssystems werden nun offenbar. In meinen kommenden Artikeln möchte ich sie nach und nach erläutern. Vorneweg möchte ich festhalten: Alle unsere Systeme sind miteinander verzahnt. Auch das Bildungssystem hängt mit anderen Systemen fest zusammen. Dementsprechend wirkt sich die Corona-Krise auf das Gesamtsystem flächendeckend aus. Probleme, die im Bildungssystem auftreten, strahlen in andere Systeme hinein, in andere Lebensbereiche. Dies soll stets im Hinterkopf behalten werden.

Die Vision hinter der Digitalisierung

Große Hoffnungen werden in die sogenannte Digitalisierung gesetzt. Dabei ist der Begriff nicht einmal einheitlich definierbar, sondern unterliegt den unterschiedlichen Perspektiven unserer vielfältigen globalen Gesellschaft. Dementsprechend sind die Vorstellungen, die mensch sich von der Digitalisierung macht, ebenso vielfältig. Die einen verdammen die zunehmende Technologisierung und sehen vor allem die Gefahren hinter der Entwicklung. Die anderen setzen sich beinahe blind für den digitalen Wandel ein und sehen ausschließlich die Vorteile. Aber es gibt auch sehr differenzierte Ansichten, die Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen. Zu dieser Gruppe zähle ich mich selbst.

Bildquelle: https://pixabay.com/photos/school-tablet-ipad-education-3765919/

Es ist wichtig, sich dies bewusst zu machen. Digitalisierung ist nicht gleich Digitalisierung. Man sollte sich stets diese Fragen stellen, wenn man „Digitalisierung“ anstrebt: An welcher Stelle macht es Sinn? Wie können die Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen werden? Nützt mir der Einsatz digitaler Medien oder schadet er mir? Welche Möglichkeiten ergeben sich daraus? Welche Hindernisse und Gefahren verbergen sich?

Zur Beantwortung dieser Fragen ist eine umfassende Recherche nötig. Hier mal eben ein schlauer Artikel einer „renommierten“ Zeitung gelesen bringt keine abschließende Einsicht. Pro und Contra muss beidseitig betrachtet werden. Denn mit den digitalen Medien ist und bleibt es eine individuelle Angelegenheit: Für die einen machen sie an dieser Stelle Sinn, für die anderen nicht.

Digitaler Wandel in der Bildung

Betrachten wir vor diesem Hintergrund den digitalen Wandel im Bildungssystem, der durch die Corona-Krise einen unfreiwilligen Schubs erfahren hat. Seit Jahren plädieren einige dafür, die Schulen und Universitäten (ja sogar manche Kitas) flächendeckend mit Tablet und Co. auszustatten. Zurecht warnen viele, dass diese Ausgaben wenig Sinn machen, wenn die Pädagog*innen nicht zeitgleich entsprechend weitergebildet werden können. Doch kaum jemand hat den gröbsten Fehler in dieser Entwicklung im Blick: Bevor ich all dies Geld in die Hand nehme und fleißig Medien einkaufe und die Pädagog*innen ausbilde, brauche ich zuallererst ein tragendes Konzept hinter der Digitalisierung in der Bildung.

Ich muss wissen, wo und wann der Einsatz digitaler Medien sinnvoll ist, ob er für die Bildung einen Mehrwert bringt.

In der Corona-Krise verbirgt sich die Chance, die nötigen Erkenntnisse zu gewinnen, bevor die Fördermittel aus dem Topf der Bundesregierung endgültig ausgeschüttet sind – und um zu verhindern, dass Unmengen Elektroschrott entsteht, weil die Tablets keine sinnvolle Verwendung finden und deshalb bald aufgegeben im Schrank verstauben. Sowohl Kritiker als auch fleißige Befürworter*innen erhalten nun die ultimative Gelegenheit, den Unterricht vollständig in der virtuellen Welt stattfinden zu lassen und damit all die Möglichkeiten in der unmittelbaren Praxis und unverkennbaren Realität zu testen. Um dann die hoffentlich richtigen Schlüsse zu ziehen.

Ohne Grundlage gibt es keine Entwicklung

Medien als solche sind weder gut noch schlecht. Sie haben für sich allein weder positive noch negative Auswirkungen. Diese können sich erst entfalten, abhängig davon, wie die Menschen sie nutzen und einsetzen. Ohne die entsprechenden Intentionen und darauf folgenden Handlungen sind Medien lediglich tote Werkzeuge. Sie haben kein Eigenleben (auch wenn viele das gerne behaupten) und sie besitzen keinen Eigenwert. Es sind unbelebte Gegenstände, die genau den Wert und Einfluss erhalten, den wir ihnen zuschreiben und zugestehen.

Bildquelle: https://pixabay.com/photos/baby-learn-laptop-question-2709666/

Bevor ein Kind das Lesen und Schreiben lernt, lernt es das Sprechen. Es lernt die Wörter und ihre Bedeutungen kennen. Dann bekommt es Zugang zur Schrift. Die Buchstaben werden zum wertvollen Werkzeug, mit dem es die Grenzen der Kommunikation schlagartig erweitert. Doch bevor es dieses Werkzeug zu nutzen gelernt hat, hat es gelernt, mit der Sprache als solche umzugehen.

Genauso muss es sich mit den Medien verhalten. Bevor ich sie als ein wertvolles Werkzeug zur Kommunikation nutzen kann, muss ich die Sprache beherrschen, mit der ich sprechen möchte. Dann wird das Medium zu einem sinnvollen Werkzeug.

Je vielfältiger und größer die Möglichkeiten, die mit einem Werkzeug einhergehen, desto größer ist auch die Verantwortung für den Umgang.

Die Grenzen der digitalen Kommunikation

Gerade jetzt spüren wir es alle ganz deutlich: Ein Telefonat oder ein Videochat können die realen Begegnungen nicht ersetzen. Selbst wenn Mimik für mich über die Kamera sichtbar wird, fehlen doch einige non-verbale Faktoren, die wir vor allem unbewusst wahrnehmen, wenn wir miteinander kommunizieren: Geruch, Schwingungen, Gesten. Sicherlich bringen uns die digitalen Medien näher zueinander, indem sie räumliche Grenzen überwinden. Doch eine medienvermittelte Kommunikation bleibt eine Kommunikation mit einer unsichtbaren Schranke zwischen den Menschen. Sie kann niemals die Authentizität eines Flurgesprächs oder eines Klönschnacks beim Tee ersetzen.

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Das bekommen vor allem die Lehrenden und Lernenden zu spüren. Lernräume können nicht vollständig in den virtuellen Raum übertragen werden. Die Qualität der Bildung hängt stark von der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden ab. Eine Beziehung kann sich nicht authentisch allein über digitale Medien vermittelt entwickeln. Eine vom Körper losgelöste Stimme oder ein von Geruch und Schwingungen befreites bewegtes Bild sind schlichtweg unvollständig.

Wir sind Beziehungswesen. Wir sind auf Beziehungen angewiesen. Beziehungen können nur in direkten Kontakten wahrhaftig wachsen.

Die Krise ist für die Digitalisierung in der Bildung eine Chance, um die Zweischneidigkeit zu erkennen. Ja, die Digitalisierung eröffnet Möglichkeiten. Aber sie hat ihre Grenzen und benötigt Grundlagen um sinnvoll zu sein.

Chancen der Krise – Teil 1: Rettet die Kindheit

Quelle Beitragsbild: https://pixabay.com/illustrations/network-earth-block-chain-globe-3537401/