Chancen der Krise – Teil 3: Wir sind miteinander verbunden
Welche Chancen ergeben sich aus der Corona-Krise für unser Bildungssystem? Aber auch für unsere gesamte Gesellschaft? Diesen Fragen gehe ich in meiner Artikelreihe „Chancen der Krise“ nach.
Heute mehr denn je spüren wir, wie sehr wir voneinander abhängen. Und diese Abhängigkeit bewerten wir zunehmend positiv. Wir erkennen ihren Wert. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Sein Gehirn lernt durch den Kontakt mit anderen Menschen. Wir werden zu Menschen, weil wir unter Menschen aufwachsen. Uns ist das Menschsein nur bedingt angeboren. Die neuesten Erkenntnisse aus der Genetik zeigen: Wir sind nicht vorprogrammiert. Wir entwickeln uns. Um uns entwickeln zu können, brauchen wir andere Menschen. Wir brauchen stabile Beziehungen zu ihnen.
Je mehr sich die Wissenschaft mit dieser grundlegenden Erkenntnis beschäftigt, desto mehr sieht sie die Zusammenhänge und findet Belege, die dies untermauern. Nachdem sie sich Jahrhunderte damit befasst hat, alles in seine Einzelteile zu zerlegen und bis in das kleinste Teilchen zu hinterfragen, stellt sie fest: Das Universum besteht nicht aus kleinsten Teilchen, sondern aus den Beziehungen zwischen ihnen:
Auch die Quantenphysik sagt uns heute, dass es keine getrennten Teile gibt. Alles ist ins Unendliche ausgestreckt und im Hintergrund miteinander verbunden. Jedes Atom ist mit jedem Atom in diesem Universum verbunden. Alles kann mit allem kommunizieren.“
Dürr, Hans Peter (2018): Teilhaben an einer unteilbaren Welt – Das ganzheitliche Weltbild der Quantenphysik. Seite 26. In: Hüther, Gerald & Spannbauer, Christa (Hrsg.) (2018): Verbundenheit – Warum wir ein neues Weltbild brauchen. Bern: Hogrefe Verlag. Seite 19 – 32.
Wie bereits angesprochen, wenden sich auch die Genetiker*innen immer mehr dieser Perspektive zu. Denn Zellen sind nicht genetisch vorprogrammiert. Der Mensch ist nicht vorprogrammiert. Zellen reagieren auf äußere Einflüsse, indem sie jene Gene aktivieren, die sie benötigen, um mit diesen äußeren Bedingungen umgehen zu können (Siehe Hüther, Gerald (2018): Paradigmenwechsel in den Life Sciences – Von der alten Biologie des Voneinander-Abgrenzens zu einer neuen Biologie des Miteinander-Werdens. Seite 114f. In: Hüther, Gerald & Spannbauer, Christa (Hrsg.) (2018): Verbundenheit – Warum wir ein neues Weltbild brauchen. Bern: Hogrefe Verlag. Seite 107 – 129.).
Wir entwickeln uns. Wir sind auf Veränderungen angewiesen, um uns weiterentwickeln zu können. Die Umwelt verändert sich laufend. Wir sind aber nicht nur von umweltbedingten Einflüssen abhängig, sondern auch (und vor allem) von sozialen Einflüssen. Während sich unsere Umwelt verändert, muss sich unsere Gesellschaft ebenfalls verändern. Dabei haben wir eine Verantwortung für unsere Umwelt. Da wir einen erheblichen Einfluss auf sie ausüben und außerdem abhängig von ihr sind, sind wir ihrem Wohlergehen verpflichtet, damit es uns auch wohl ergeht. Nutzen wir unseren Einfluss, um dem unaufhaltsamen Wandel eine positive Entwicklung zu geben. Wir bestimmen gemeinsam den Rahmen, in dem sich jede*r Einzelne entwickelt:
Connectedness bedeutet, die Welt nicht als eine Ansammlung voneinander isolierter Teile zu sehen, sondern als ein lebendiges Netz, in dem alles miteinander verbunden und wechselseitig voneinander abhängig ist. Dies beinhaltet die Erkenntnis, dass das Gaze immer schon mehr ist als seine Teile, da ständig Neues entsteht durch die Beziehungen zwischen den Teilen, deren Wechselwirkung und Verntezung untereinander. Durch das Zusammenwirken, durch die Förderung aller Teile innerhalb des Systems und seiner Interaktion kann neues Potenzial freigesetzt und entfaltet werden. Hierfür braucht es jedoch ein offenes und tolerantes System, das ein größtmögliches Maß an Verschiedenheit und Vielfalt wertschätzt und fördert. Dann können alle Beteiligten in diesem Beziehungsgeflecht ihre einzigartigen Talente einbringen und ihr jeweiliges besonderes Potenzial entfalten. Je komplexer ein Netzwerk ist – dies zeigt uns die Natur – desto flexibler und stabiler ist es. Denn die Vielfalt ermöglicht viele verschiedene Perspektiven und stellt dadurch im Umgang mit Problemen ein ganzes Set an Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung.“
Hüther, Gerald & Spannbauer, Christa (2018): Wege zum ‚Wir‘. Seite 15f. In: Hüther, Gerald & Spannbauer, Christa (Hrsg.) (2018): Verbundenheit – Warum wir ein neues Weltbild brauchen. Bern: Hogrefe Verlag. Seite 11 – 18.
Bezogen auf das Bildungssystem heißt dies, wir müssen uns der Verantwortung bewusst sein, dass ZUERST die Rahmenbedingungen entscheidend sind, DANN die Inhalte. Und diese Inhalte können nicht in Einzelteilen serviert werden. Denn die Welt besteht aus Beziehungen, das weiß die Wissenschaft bereits seit Jahrzehnten. Doch in der Lehre ist dies noch nicht angekommen. Dabei ist es notwendig, dass wir lernen, in Zusammenhängen zu denken und die Welt so zu sehen, wie sie ist: als eine zusammenhängende Vielfalt. Deshalb: Schluss mit der Fächertrennung und Kategorisierung.
Die Rahmenbedingungen steuern, wie sich der Mensch entwickelt. Sie geben vor, ob er sich frei, seinen Potenzialen entsprechend, entfalten kann oder ob er sich in einem System gefangen fühlt, in dem er nur durch Anpassung überleben kann. Anpassung brauchen wir, um in unserer Umwelt überleben zu können (wobei hier die Verantwortung für die Umwelt nicht vergessen werden darf). Doch bezogen auf unser soziales Zusammenleben brauchen wir Platz zur Entfaltung, damit wir uns gemeinsam weiterentwickeln können.
Der neue Leitfaden für das Bildungssystem lautet also: Aus dem Bewusstsein der Verbundenheit entsteht die Entfaltung des Individuums. Es muss sich als Bestandteil des Ganzen begreifen können, um frei zu sein:
Zusammenfassend ist zu sagen, daß sich die Liebe zum Leben am besten in einer Gesellschaft entfalten wird, wenn darin folgende Voraussetzungen gegeben sind: Sicherheit in dem Sinn, daß die materiellen Grundlagen für ein menschenwürdiges Dasein nicht bedroht sind [setzt Wohlergehen der Umwelt voraus], Gerechtigkeit in dem Sinn, daß niemand als Mittel zum Zweck für andere ausgenutzt werden kann [setzt Bewusstsein der Verbundenheit voraus], und Freiheit in dem Sinn, daß jedermann die Möglichkeit hat, ein aktives und verantwortungsbewußtes Mitglied der Gesellschaft zu sein [Räume zur Entfaltung]. Der letzte Punkt ist besonders wichtig. Selbst in einer Gesellschaft, in der Sicherheit und Gerechtigkeit herrschen, kann die Liebe zum Leben sich nicht entwickeln, wenn in ihr nicht die kreative Selbsttätigkeit des einzelnen gefördert wird.“
Fromm, Erich (1990):
Die Seele des Menschen – Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen
. München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG. Seite 52f.
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