Mutter Natur: Entfaltungs- und Heilungsraum

Mutter Natur: Entfaltungs- und Heilungsraum

31. August 2020 0 Von Madita Hänsch

Aus der Natur kommen wir und zu ihr gehören wir. In Jahrmillionen entwickelten wir uns im Einklang mit Mutter Natur. Innerhalb weniger Jahrhunderte zerstörten wir dieses lebenswichtige Bündnis. Wohin führt uns diese Entwicklung? In Einsamkeit und Krankheit – und im schlimmsten Fall sogar in unseren Untergang.

Die Naturwissenschaften suchen seit jeher nach dem Ursprung. Wo kommen wir her? Wo gehören wir hin? Wer sind wir? Was wollen wir? Auf dieser Suche brachte sie uns den rasanten Fortschritt, der uns heute diesen unermesslichen Luxus ermöglicht. Wir leben im Überfluss. Wir leben länger. Wir leben in Frieden. Doch wie ist es um unseren Seelenfrieden bestellt? Ist das längere Leben auch lebenswerter?

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Interessanterweise hat die Naturwissenschaft auf der Suche nach den unerschütterlichen Gesetzen, aus denen unser Universum geschaffen ist, vor allem eines ans Licht gebracht: Es gibt keine Realität. Es gibt keine Materie. Der Ursprung des Lebens ist das Geistige. Die Wirklichkeit ist das Momenthafte der Potenzialität. Hans-Peter Dürr, Kernphysiker und Nobelpreisträger, bringt es auf den Punkt:

„Das Primäre ist Beziehung, der Stoff das Sekundäre. Materie ist ein Phänomen, das erst bei einer gewissen vergröberten Betrachtung erscheint. Stoff ist geronnene Form. Vielleicht könnten wir auch sagen: Am Grunde bleibt nur etwas, was mehr dem Geistigen ähnelt – ganzheitlich, offen, lebendig, Potenzialität. Materie ist die Schlacke dieses Geistigen – zerlegbar, abgeschlossen, determiniert, Realität. In der Potenzialität gibt es keine ein-deutigen Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Zukunft ist im Wesentlichen offen. Es lassen sich für das, was ‚verschlackt‘, was real passiert, nur noch Wahrscheinlichkeiten angeben. Es gibt keine Teilchen, die unzerstörbar sind, die mit sich selbst identisch bleiben, sondern wir haben ein ‚feuriges Brodeln‘, ein ständiges Entstehen und Vergehen. In jedem Augenblick wird die Welt neu geschaffen, aber im Angesicht, im ‚Erwartungsfeld‘ der abtretenden Welt. Die alte Potenzialität in ihrer Ganzheit gebiert die neue und prägt neue Realisierungen, ohne sie jedoch eindeutig festzulegen. In diesem andauernden Schöpfungsprozess wird ständig ganze Neues, Noch-nie-Dagewesenes geschaffen. Alles ist daran beteiligt. Das Zusammenspiel folgt bestimmten Regeln. Physikalisch wird es beschrieben durch eine Überlagerung komplexwertiger Wellen, die sich verstärken und schwächen können. Es ist ein Plus-Summen-Spiel, wo Kooperation zur Verstärkung führt, und was interessanterweise auch eine teleologische Ausrichtung (Hamiltonsches Prinzip der kleinsten Wirkung) imitieren kann. Der zeitliche Prozess ist nicht einfach Entwicklung und Entfaltung, ein ‚Auswickeln‘ von schon Bestehendem, von immer-währender Materie, die sich nur eine neue Form gibt. Es ist echte Kreation: Verwandlung von Potenzialität in Realität.“

Dürr, Hans-Peter (2016):
Geist, Kosmos und Physik – Gedanken über die Einheit des Lebens.
Amerang: Crotona Verlag GmbH. S. 33f

Aus der Biologie kommen ähnliche Töne. Alles ist miteinander verbunden, lautet hier die Erkenntnis. Alles hat sich miteinander entwickelt. Es geht nicht um Konkurrenz, sondern um Kooperation. Das gilt auch für den Menschen. Auf kultureller Ebene brauchen wir einander, um uns überhaupt zu einem lebensfähigen Geschöpf entwickeln zu können. Das Gehirn ist ein soziales Gehirn. Es lernt anhand dessen, was uns andere Menschen vormachen:

„In all jenen Bereichen, in denen es sich von tierischen Gehirnen unterscheidet, wird das menschliche Gehirn durch Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen geformt und strukturiert. Unser Gehirn ist also ein soziales Produkt und als solches für die Gestaltung von sozialen Beziehungen optimiert.“

Hüther, Gerald (2011):
Was wir sind und was wir sein könnten – Ein neurobiologischer Mutmacher
. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH. S. 44
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Auf der rein biologischen Ebene wird die Abhängigkeit des Menschen von seiner Umwelt noch viel signifikanter. Die sogenannten „Wolfskinder“ beweisen es. Der Mensch kann zwar ohne andere Menschen überleben (wenn auch nicht leben, also sich entfalten), doch ohne Mutter Natur, kann er nicht einmal das. Dabei geht es um mehr als die Quelle von Nahrung, Licht und Wasser. Es geht um unser seelisches Wohlbefinden:

„Die Sehnsucht des Menschen nach der Natur nannte Erich Fromm, der Psychotherapeut und Philosoph, der von 1900 bis 1980 lebte, ‘Biophilia‘. Das ist die Liebe der Menschen zur Natur, zum Lebendigen. Der Begriff ‚Biophilia‘ stammt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich übersetzt ‚Liebe zum Leben‘. Nach Erich Fromms Tod nahm der US-amerikanische Evolutionsbiologe Edward O. Wilson, ein Universitätsprofessor in Harvard, den Begriff auf und stellte die Biophilia-Hypothese auf. Wilson sprach von dem ‚menschlichen Bedürfnis, sich mit anderen Lebewesen zu verbinden‘. Es geht um unsere Verbindung mit der Natur. Sie ist das Resultat eines Jahrmillionen langen Evolutionsprozesses. Der Mensch kommt aus der Natur, entwickelte sich in ihr und im Wechselspiel mit ihr. Er ist daher als Teil der Natur zu betrachten, so wie alle anderen Lebensformen. Es wirkt dieselbe Lebenskraft in uns, die auch in Tieren und Pflanzen wirkt. Wir sind Teil des Netzes des Lebens, des ‚Web of Life‘, wie es Edward O. Wilson ausdrückte. Der Biophilia-Effekt tritt ein, wenn wir uns mit unseren Wurzeln verbinden, und die sind nicht in Beton gewachsen, wie es Andreas Danzer so treffend auf den Punkt brachte. Der Biophilia-Effekt bedeutet natürliche Schönheit und Ästhetik, Entfesselung und Heilung.“

Arvay, Clemens G. (2020):
Der Biophilio Effekt – Heilung aus dem Wald.
Wien: Ullstein Taschenbuch. S. 17f
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Die Sehnsucht nach Verbundenheit – ohne die Möglichkeit, uns mit unserer Umwelt verbinden zu können, sind wir schlichtweg einsam und verloren. Die zunehmenden Volkskrankheiten unserer industrialisierten Gesellschaft beweisen es. Sie sind Resultate eines krankhaften Konsum materieller Güter. Und dieser Konsum ist nichts anderes als der verzweifelte Versuch, durch kurzfristige Glücksgefühle den Mangel an grundlegender lebenswichtiger Zufriedenheit zu kompensieren:

„Der Konsumentenhaltung liegt der Wunsch zugrunde, die ganze Welt zu verschlingen, der Konsument ist der ewige Säugling, der nach der Flasche schreit.“

Fromm, Erich (1979):
Haben oder Sein – Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG.
S. 42

Weil ich mich nicht mit der Welt verbinden kann, versuche ich, sie mir einzuverleiben. Weil ich keine Sicherheit verspüre, klammere ich mich an ein Schutzschild aus Materie. Doch da Materie im Grunde nicht existiert, sondern das Universum aus Beziehungen besteht, die ich nicht in der Lage bin, zu erfassen und deshalb einzugehen – wo soll das hinführen?

Schnitt.

In den letzten vier bis fünf Jahrzehnten wuchs in den unbeschwerten Friedenszeiten unserer Gesellschaft eine Gegenbewegung: Der Mensch, der alles hat, erkennt, dass er nichts hat, solange er sich nicht mit der Welt verbinden kann. Ich gehöre zu einer der glücklichen Generationen, die ihre Kindheit, in Frieden und Wohlstand, in der Natur verbrachten. Dort fand ich Entfaltungsräume. Dort fand ich Abenteuer. Dort gab es andere Kinder. Was finden die Kinder heute, die ebenfalls in Frieden und Wohlstand aufwachsen, noch vor ihrer Haustür? Vorgefertigte Spielplätze. Massenhaft fertiges Spielzeug. Kaum andere Kinder. Dafür Erwachsene, die sie streng beobachten. Kann ein Kind hier noch seinen Drang zu Spielen ausleben?

„Spielen heißt, das zu tun, was notwendig ist, aber selbst darüber zu entscheiden, wie es getan werden soll. Die Notwendigkeit in ihrer Umsetzung zu verändern, zu verwandeln, neu auszurichten, mit andern zu teilen. Spielen heißt, mit der Welt zu arbeiten, wie sie ist, nicht wie wir sie gerne hätten oder wie wir sie zu sein zwingen – sondern so mit ihr zu arbeiten, wie es unserem Bedürfnis entspricht. Spielen hat so den grundlegenden Charakter einer gelingenden Beziehung: Es verwandelt das eine durch das andere und erschafft etwas Neues, in dem beide enthalten sind. Wie die Poesie. Wäre das nicht – abgeschaut am Bedürfnis der Kinder, sich die Welt neu zu erschaffen, und an ihrer Sehnsucht, dass wir diesen Erschaffungswunsch und ihre Kraft, ihn zu realisieren, anerkennen-, wäre das nicht zugleich eine brauchbare Definition des erwachsenen Ichs? Jenes Ich, das unsere narzisstische Zivilisation so sehr und dringend als Gegenmittel gegen ihre Leere und ihre Sucht bräuchte, in einem jeden von uns und in jedem Kind, das wird? Spielen erschafft Wirklichkeit – freilich nicht durch Kontrolle. Sondern als Geschenk.“

Pohl, Gabriele (2014):
Kindheit – aufs Spiel gesetzt – Vom Wert des Spielens für die Entwicklung des Kindes. Berlin Heidelberg: Springer Spektrum. S. X
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Spielen ist ein kreativer Gestaltungsprozess. Er findet in Kooperation statt. Ist es nicht das, was sich der/die Arbeitgeber*in von Morgen wünscht? Findet ein Kind in den sterilen, vorgefertigten, von Erwachsenen bewachten und eingezäunten Umgebungen im Freien noch die Voraussetzungen, die es für echtes Spiel braucht?

Nein.

Stattdessen: Schickt eure Kinder in den Wald. Lasst sie dort unter sich sein. Nehmt die Schrammen und aufgeschlagenen Knie in Kauf. Denn die Natur ist, neben einem funktionierenden sozialen Gefüge (sprich: Familie), alles, was ein Kind braucht, um sich entfalten zu können:

„Natürliche Räume und Materialien stimulieren die grenzenlose Fantasie der Kinder und dienen als Medium für Erfindungen und schöpferische Aktivitäten, die sich bei fast allen Kindern beobachten lassen, die in natürlicher Umgebung zusammen spielen.“

Pohl, Gabriele (2014):
Kindheit – aufs Spiel gesetzt – Vom Wert des Spielens für die Entwicklung des Kindes. Berlin Heidelberg: Springer Spektrum.
S. 129

„Natur ist für Kinder so essenziell wie gute Ernährung. Sie ist ihr angestammter Entwicklungsraum. Hier stoßen die Kinder auf vier für ihre Entwicklung unverhandelbare Quellen: Freiheit, Unmittelbarkeit, Widerständigkeit, Bezogenheit. Aus diesen Erfahrungen bauen sie das Fundament, das ihr Leben trägt.“

Renz-Polster, Herbert & Hüther, Gerald (2019): Wie Kinder heute wachsen – Natur als Entwicklungsraum – Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken. Weinheim Basel: Beltz Verlag. S. 9
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Noch nicht überzeugt? Dann hören wir doch zum Abschluss noch einmal die naturwissenschaftliche Stimme. Die Biologie hat unter anderem erkannt, dass unser Körper unbewusst mit der Natur kommuniziert – allen voran unser Immunsystem:

„Wenn Sie die Luft in einem Wald einatmen, dann atmen sie einen Cocktail aus bioaktiven Substanzen, die von Pflanzen an die Waldluft abgegeben werden. Darunter befinden sich auch die Terpene. Wenn wir durch den Wald gehen, kommen wir vor allem mit jenen Terpenen der Pflanzenkommunikation in Kontakt, die gasförmig sind. Wir nehmen sie teils über die Haut, vor allem aber über die Lungen auf. Die Terpene aus der Luft stammen aus den Blättern und Nadeln der Bäume. Sie strömen aus den Baumstämmen und aus der dicken Borke mancher Bäume. Büsche, Kräuter und Sträucher im Unterholz, sowie Pilze, Moose und Farne geben sie ebenfalls ab. Sogar die Streuschicht aus Laub und die darunter liegende modrige Humusschicht, in der es vor Leben nur so wimmelt, geben Terpene ab. […] Einige unter den Terpenen interagieren auf höchst gesundheitsfördernde Weise mit unserem Immunsystem. Nennen wir sie ‚Anti-Krebs-Terpene‘. Waldluft ist wie ein Heiltrunk zum Einatmen. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass die Anti-Krebs-Terpene aus der Waldluft alte Bekannte für unser Immunsystem sind. Sie entstammen zwar der Kommunikation der Bäume, Pilze und Kräuter untereinander, aber auch unser Immunsystem kann sie entschlüsseln.“

Arvay, Clemens G. (2020): Der Biophilio Effekt – Heilung aus dem Wald. Wien: Ullstein Taschenbuch. S. 30f

Probieren Sie es selbst aus: Verbringen Sie an einem Wochenendtag mehrere Stunden am Stück in einem Wald. Was macht es mit Ihnen?