Wer das System ändern möchte muss zuerst sich selbst ändern

Wer das System ändern möchte muss zuerst sich selbst ändern

11. Juni 2021 0 Von Madita Hänsch

Diese Weisheit ist nicht neu. Und dennoch scheitern laufend mit Elan begonnene Transformationsprozesse genau daran – während die äußeren Strukturen fleißig verändert werden, kommen die inneren nicht mehr mit. Um Breidenbach und Rollow an dieser Stelle direkt zu zitieren:

„Wenn ein Team äußere Organisationsstrukturen und –prozesse reduziert, müssen die Teammitglieder mehr Strukturen in ihrem Inneren aufbauen. Umgekehrt gilt: Wenn ein Unternehmen starke Strukturen hat, ist es für Mitarbeiter weniger erforderlich, ihre individuellen Strukturen zu nutzen oder weiter zu entwickeln.“


Breidenbach, Joana & Rollow, Bettina (2019): New Work needs Inner Work. München: Franz Vahlen GmbH. Seite 11

Um es ganz plastisch zu formulieren: Wenn ich die Hierarchie abschaffe, müssen die Menschen dazu fähig sein, im Kollektiv und auf Augenhöhe miteinander so zusammenzuarbeiten, dass sie ihre Ziele erfolgreich erreichen können. Dies erfordert hohe Emotionale Intelligenz (umgangssprachlich „Social Skills“). Auch diese Erkenntnis ist nicht neu, so wächst doch bereits der Druck auf das Bildungssystem, eben diese Kompetenzen verstärkt zu fördern – ohne sich dabei im Klaren zu sein, dass dies eben nur dann umsetzbar ist, wenn sich die äußeren Strukturen in demselben Maße abbauen. Denn ohne den passenden Rahmen, kann das Potenzial nicht wachsen. Wir sprechen hier von einer schlichten mathematischen Gleichung. Und genau dieser Zusammenhang erfährt bisher noch nicht die Aufmerksamkeit, die es benötigt, damit wir endlich aus unserem gesellschaftlichen Dilemma herausfinden.

Um es von einem anderen Blickwinkel zu betrachten: Warum scheitern so viele Transformationsprozesse, bei denen ausschließlich oder vorrangig an den äußeren Strukturen geschraubt wird? Wenn ich die Hierarchie abbaue, baue ich die von außen stabilisierende Struktur ab. Ich nehme die klare Rollenverteilung, den an gesellschaftlichen Normen orientierten Status, der mein Gehalt und meinen Verantwortungsraum definiert, ich nehme den klaren zeitlichen Takt von Arbeitsbeginn bis Feierabend und Pausenzeiten, die verlässliche Anzahl an Urlaubstagen, etc., etc. Ich tue all dies, in der hoffnungslos positiven Annahme, dass wir im Team für alles einen Konsens ausdiskutieren können. Das Resultat sind Orientierungslosigkeit und Unsicherheit. Und aus Mangel an Lösungen kehren wir zurück zum Altbewährten.

Schauen wir uns ein allzeit beliebtes Beispiel an: Buurtzog. Dies ist ein niederländisches Unternehmen, das Pflegedienstleistungen anbietet. Es besteht aus dem Gründer und den Teams aus Pflegekräften sowie einer Armada von Coaches. Es gibt keine Manager, keine Verwaltung – keine Hierarchie (denn auch der Gründer hat keine Entscheidungsbefugnis, die über den Teammitgliedern steht). Die Teams setzen sich aus jeweils 10 bis 12 Pflegekräften zusammen. Jedes Team verwaltet sich selbst. Sie erstellen ihre Dienstpläne selbst, ihre Urlaubszeiten, etc. Buurtzog ist inzwischen auch in Deutschland angekommen und erfreut sich größter Beliebtheit in der Branche. All die Probleme, mit denen Pflegekräfte bekanntermaßen zu kämpfen haben, gibt es bei Buurtzog schlichtweg nicht, denn hier entscheiden genau die, bei denen die geforderten Kompetenzen liegen: Die Pflegekräfte selbst.

Wie bewerkstelligen sie das? Indem sie stabile innere Strukturen aufgebaut haben. Wer neu zu Buurtzog dazustößt, durchläuft eine Reihe von Schulungen, um all die Social Skills zu erwerben, die dafür nötig sind, zum Beispiel im Peer Coaching. Außerdem können die Teams auf einen Methodenkoffer zurückgreifen, der sich für sie bewährt hat, um Entscheidungsprozesse zu steuern oder Konflikte zu lösen. Und sollte ein Team dennoch einmal feststecken, können sie einen Coach zuhilfe rufen. Oder sich Rat bei den anderen Teams einholen.

„Wenn Sicherheit gebende äußere Elemente reduziert werden, bleiben uns die stabilisierenden Strukturen und Faktoren der inneren Dimensionen. Dabei handelt es sich insbesondere um Kompetenzen, die mit Kommunikation, Reflexion und Beziehung zu tun haben.“

Breidenbach, Joana & Rollow, Bettina (2019): New Work needs Inner Work. München: Franz Vahlen GmbH. Seite 45.

Hier winke ich erneut mit der Emotionalen Intelligenz. Dazu gehört auch der Aspekt der Achtsamkeit. Es gehört zur hohen Kunst der menschlichen sozialen Fähigkeiten, die Balance zwischen der Berücksichtigung meiner eigenen Bedürfnisse und derer Lebewesen in meinem Umfeld zu halten. Doch wenn das gelingt, werden ungeahnte Energien freigesetzt, die kreative Prozesse anfeuern. Hier betreten wir den potenzialreichsten Raum: den Ko-Kreativen Raum.

Jede*r, der/die diesen Raum bereits betreten durfte weiß, wie es sich anfühlt: Hier bin ich ich, hier bin ich Mensch, hier bin ich als Teil des Ganzen.