Wie unser Bildungssystem pathologischen Narzissmus fördert

Wie unser Bildungssystem pathologischen Narzissmus fördert

23. Juli 2021 1 Von Madita Hänsch

Oder anders ausgedrückt: Wie unser Bildungssystem darin versagt, präventiv gegen den pathologischen Narzissmus anzugehen.

Was ist Narzissmus? Was unterscheidet den gesunden vom pathologischen (also krankhaften) Narzissmus? Welche Formen der Ausprägung gibt es? Warum ist unsere Gesellschaft narzisstisch geprägt? Und wo versagt das Bildungssystem genau?

Ich berufe mich in diesem Artikel hauptsächlich auf das Buch „Die narzisstische Gesellschaft“ von Hans-Joachim Maaz. Doch auch Erichs Fromm „Haben oder Sein“ und „Die Seele des Menschen“ spielen bei dieser Analyse eine Rolle. Außerdem spielt das Verständnis vom Menschlichen Selbst eine Rolle, dazu habe ich mich bereits in diesem Artikel ausführlicher geäußert: https://inwuerdeleben.wordpress.com/2021/04/01/wettbewerb-blockiert-die-entwicklung-des-selbst/

Fangen wir mit den ersten drei Fragen an. Das folgende Zitat umreißt die definitorische Grundlage sehr passend:

„Ein gesunder Narzissmus ist die Grundlage für erlebten Selbstwert und gelebtes Selbstvertrauen. Die empfundene Selbstliebe ist das Ergebnis durch Zuwendung, Einfühlung, Bestätigung und Befriedigung individueller Bedürfnisse erfahrener Liebe. Selbstliebe ist also in ihrem Ursprung von Fremdliebe abhängig. Das Kind braucht Eltern, die in der Lage und bereit sind, gemessen an den Bedürfnissen des Kindes, ausreichend Zeit für das Kind aufzubringen, sich in die Bedürfniswelt des Kindes einzufühlen und angemessen erfüllend und befriedigend auf die Äußerungen des Kindes zu antworten. Der feine, aber entscheidende Unterschied liegt darin, ob man wirklich willens und in der Lage ist, die Innenwelt des Kindes empathisch wahrzunehmen, oder eher geneigt ist, dem Kind die eigenen Vorstellungen und Erwartungen, wie es denn sein soll, zu vermitteln.“

Maaz, Hans-Joachim (2021): Die narzisstische Gesellschaft – Ein Psychogramm. München: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. S. 13.
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Dies deckt sich mit der Erkenntnis, dass das Selbst sich erst in Bezogenheit auf andere entwickelt. Damit diese Entwicklung solide ablaufen kann, braucht das Kind eine authentische Verbundenheit zu seinen primären Bezugspersonen: Also eine Beziehung, die auf ehrlich gemeinter Liebe beruht. Das Kind muss in seinen Bezugspersonen einen ehrlichen Spiegel seiner Selbst erfahren können, frei von Projektionen der Erwartungen der Erwachsenen. Stattdessen mit einer offenen, erwartungsfreien Haltung, die das Kind so akzeptiert, wie es ist. Denn sobald die Beziehung an Erwartungen, das heißt das Gewähren von Zuneigung an Bedingungen geknüpft ist, verfälscht sich das Spiegelbild. Sind die Erwachsenen selbst von pathologischem Narzissmus betroffen und beherrschen keinerlei Fähigkeiten, damit adäquat umzugehen, ist die Übertragung der Krankheit vorprogrammiert.

Im Grunde beschreibt pathologischer Narzissmus den Mangel an authentischer Liebe im frühkindlichen Stadium. Das Kind wird nicht in seiner ursprünglichsten Würde anerkannt, sondern erfährt Zuneigung stets an Bedingungen geknüpft. Dies führt zu einer tiefen und unheilbaren Verletzung des Selbst: „Um geliebt zu werden muss ich…“ oder „Ich bin nichts wert, warum also…“ Zwei extreme Pole ergeben sich aus dem Krankheitsbild: Das Größenselbst und das Größenklein:

„Die narzisstische Störung, die ich hier in den Blick nehme, betrifft nicht nur die extremen Größenselbst-Narzissten, die durch ihre Angeberei, ihre Großspurigkeit und ihren unbedingten Willen zur Dominanz sofort auffallen und als Gewinner, als Führungskräfte und ‚Salonlöwen‘ so erfolgreich sind. Ich meine auch nicht allein die im Größenklein chronifizierten Narzissten, die mit ihrem Gequältsein und Jammern lästig fallen und als Loser und Selbstbeschuldiger das Unglück kultivieren. Ich spreche auch von der großen Zahl von Menschen, die gut angepasst an die Verhältnisse und Erwartungen ihrer Umwelt relativ unauffällig, eigentlich normal und ganz anständig leben und gemessen am Zeitgeist sich auch als erfolgreich einschätzen können – obwohl sie mit einem schwachen und brüchigen Selbst von sich selbst entfremdet leben.“

Maaz, Hans-Joachim (2021): Die narzisstische Gesellschaft – Ein Psychogramm. München: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. S. 46.

Mit diesem Wissen darüber, wie Narzissmus entsteht und welche Ausprägungen er annimmt, nehmen Sie sich eine ruhige Minute und werfen Sie einen Blick auf die Strukturen unserer Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft – und das Bildungssystem. Was fällt Ihnen auf?

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Ich greife an dieser Stelle auf Erich Fromms Theorie „Haben oder Sein“ zurück. Im Grunde beschreibt die Haben-Gesellschaft eine Gesellschaft des pathologischen Narzissmus und die Seins-Gesellschaft des gesunden Narzissmus. Anders ausgedrückt: Die Leistungsgesellschaft vs. einer Gemeinwohl-Gesellschaft. Die Analyse, dass die Menschen verzweifelt versuchen, das in ihnen existierende Loch, entstanden aus dem Mangel an authentischer Liebe im frühkindlichen Stadium, auf andere Arten zu füllen, ist geradezu erschreckend offensichtlich: Sei es der Erfolgswahn, sei es der Konsum. Oder sei es die Ablenkung vom eigenen Leiden indem reale Krisen gefördert werden, gar bis zum Aussterben der Menschheit. Zum Schutz vor dem Schmerz koppelt sich der Mensch von seinem eigenen Selbst ab. Er entfremdet sich von sich selbst. Dadurch ist er nicht mehr in der Lage, in Verbundenheit mit seiner Umwelt zu leben. Der Narzisst kann keine echte Empathie empfinden – lediglich zweckgebundene Anteilnahme. Erich Fromm beschreibt die Folgen dieser Entwicklung in einem erschreckenden – aber die Realität exakt darstellenden – Bild:

„Unsere Einstellung zum Leben wird immer mechanischer. Unser Hauptziel ist es, Dinge zu produzieren, und im Zug dieser Vergötzung der Dinge verwandeln wir uns selbst in Gebrauchsgüter. Die Menschen werden wie Nummern behandelt. Es geht nicht darum, ob sie gut behandelt und ernährt werden (auch Dinge kann man gut behandeln); es geht darum, ob Menschen Dinge oder lebendige Wesen sind. Die Menschen finden mehr Gefallen an mechanischen Apparaten als an lebendigen Wesen. Die Begegnung mit anderen Menschen erfolgt auf einer intellektuell-abstrakten Ebene. Man interessiert sich für sie als Objekte, für die ihnen gemeinsamen Eigenschaften, für die statistischen Gesetze des Massenverhaltens, aber nicht für lebendige Einzelwesen. All dies geht Hand in Hand mit einer ständig zunehmenden Bürokratisierung. In riesigen Produktionszentren, in riesigen Städten, in riesigen Ländern werden die Menschen verwaltet, als ob sie Dinge wären; die Menschen und die, welche sie verwalten, verwandeln sich in Dinge, und sie gehorchen den Gesetzen von Dingen. Aber der Mensch ist nicht zum Ding geschaffen; er geht zugrunde, wenn er zum Ding wird, und bevor es dazu kommt, gerät er in Verzweiflung und möchte das Leben abtöten. Im bürokratisch organisierten und zentralisierten Industriestaat wird der Geschmack dergestalt manipuliert, daß die Leute auf vorauskalkulierbare und gewinnbringende Weise möglichst viel konsumieren. Ihre Intelligenz und ihr Charakter wird durch die ständig zunehmende Rolle von Tests standardisiert, welche den Mittelmäßigen und das Wagnis Vermeidenden vor den Originellen und Wagemutigen den Vorrang einräumen. Tatsächlich hat die bürokratisch-industrielle Zivilisation, die in Europa und Nordamerika den Vorrang gewonnen hat, einen neuen Menschentyp geschaffen, den man als den Organisationsmenschen, den Automatenmenschen und als homo consumens bezeichnen kann. Er ist außerdem ein homo mechanicus, worunter ich einen menschlichen Apparat verstehe, der sich von allem Mechanischen angezogen und von allem Lebendigen abgestoßen fühlt.“

Fromm, Erich (1990): Die Seele des Menschen – Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen
. München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG. S. 57f.

Wie hängt all dies mit dem Bildungssystem zusammen, wie ich zu Beginn angedeutet habe? Das Bildungssystem ist ein Spiegel unserer Gesellschaft. Es ist darauf ausgelegt, die gesellschaftlichen Strukturen zu reproduzieren, anstatt zu revolutionieren. Um es auf den Punkt zu bringen: Das Bildungssystem fördert den pathologischen Narzissmus. Es belohnt das Größenselbst und bestätigt das Größenklein. Maßgeblich hierfür ist das Bewertungs- und Selektionssystem, auf dem sich unsere Bildung stützt.

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Bei dieser Betrachtung darf das Bildungssystem nicht losgelöst von der Gesellschaft als Ganzes analysiert werden. Denn beginnend im frühkindlichen Stadium, wenn die pathologische Ausprägung des Narzissmus verhindert werden kann, ist bereits sichtbar, dass die Gesellschaft jene Eltern belohnt, die ihre Kinder „abgeben“, während es jenen das Leben schwer macht, die sich ihnen voll und ganz widmen möchten. Darüber hinaus beweisen uns die Betreuungsschlüssel in jedem Bundesland, dass es den Pädagog*innen in Krippe und Kita sehr schwer gemacht wird, authentische Beziehungen zu den Kindern herzustellen und ihren Bedürfnissen gerecht werden zu können.

Ist die Katze in den Sack gefallen, nimmt die Förderung des pathologischen Narzissmus mit dem Eintritt in die Schule erst richtig Fahrt auf. Anstatt die Kinder hier mit dem nötigen Rüstzeug auszustatten, um angemessene Kompensationsstrategien zu entwickeln, werden sie darin bestärkt, ihr Größenselbst auf Kosten der Größenkleinen auszuleben.

Hans-Joachim Maaz glaubt nicht an eine Heilung des pathologischen Narzissmus, jedoch an angemessene Kompensationsstrategien (Ich bin noch nicht überzeugt davon, dass eine Heilung gänzlich ausgeschlossen ist):

„Will man für die Therapie der ‚normalen‘ narzisstischen Störung außerhalb von Leistungen der Krankenkasse eine Orientierung haben, so geht es um

– Raum und Zeit zum Innehalten, Reflektieren und Erinnerungen;

– die Möglichkeit, sich mitzuteilen, aus dem Bedürfnis heraus, gut verstanden zu werden, ohne Kritik, Belehrung, Beschämung, Vorwurf, Rat und Lob (unlängst sagte jemand zu mir: Er möchte gern einfach seinen Kopf in einen Schoß legen und nicht mehr verstehen müssen, sondern endlich auch mal verstanden werden);

– die Gelegenheit und die Ermutigung, nach seinen Gefühlen zu forschen und diese auch ausdrücken zu lernen und dafür auch wieder Raum und Zeit zu finden. Dabei sind Antworten zu finden auf folgende Fragen: Wann kann ich welche Gefühle wo und wem zeigen? Und wann muss ich welche Gefühle wie zurückhalten?“

Maaz, Hans-Joachim (2021): Die narzisstische Gesellschaft – Ein Psychogramm. München: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. S. 178.

Dazu gehört mehr als die Einführung des Schulfachs „Glück“ oder „Achtsamkeit“ in der Schule. Es braucht eine grundlegende strukturelle Veränderung des gesamten Bildungssystems entlang der Bildungsbiographie, also angefangen bei der Krippe und gipfelnd in der Erwachsenenbild