Sicherheit ist der erste und notwendige Schritt zur Potenzialentfaltung – Ein Blick auf die Polyvagal-Theorie

Sicherheit ist der erste und notwendige Schritt zur Potenzialentfaltung – Ein Blick auf die Polyvagal-Theorie

14. Dezember 2021 1 Von Madita Hänsch

Damit der Mensch sein Potenzial entfalten kann, muss er sich sicher fühlen. Die Neurowissenschaft und Psychologie haben inzwischen untersucht, dass die Voraussetzung für soziale Kollaboration und damit für Potenzialentfaltung ein physiologischer Zustand der Sicherheit darstellt. Der Begründer dieser Polyvagal-Theorie ist Stephen W. Porges. Dank seiner Forschung können wir wichtige Schlussfolgerungen für die Gestaltung von Bildungsräumen ziehen.

„Sicherheit ist wichtig, wenn man Menschen ermöglichen will, ihr Potential besser zu nutzen. Zustände der Sicherheit sind eine Voraussetzung nicht nur für soziales Verhalten, sondern auch für die Nutzung jener höheren Gehirnstrukturen, die es Menschen ermöglichen, kreativ und produktiv zu sein.

Porges, Stephen W. (2021): Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit – Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. Lichtenau: G. P. Probst Verlag GmbH. S. 24f.

Wenn ein Mensch sich nicht sicher fühlt, verwendet das Gehirn einige Energie darauf, die Umgebung nach möglichen Gefahren abzusuchen. Dies geschieht in der Regel unbewusst und wird vom Menschen selbst nicht unbedingt wahrgenommen. Das Gehirn stellt dann nicht alle nötigen Ressourcen zur Verfügung, um das volle Lern- und Entfaltungspotenzial zu erreichen. Nicht immer ist das Defensivsystem anhand von typischen stressbedingten Verhaltensmustern sichtbar. Denn, so die neu gewonnene Erkenntnis der Polyvagal-Theorie, es gibt nicht nur die beiden Zustände „Kampf/Flucht“ und „Entspannt“, sondern außerdem den Zustand der „Erstarrung“, dessen Ausdruck durchaus subtil stattfinden kann.

„Die Polyvagal-Theorie […] verweist ausdrücklich darauf, daß unser Nervensystem über mehrere Defensivstrategien verfügt und daß die Entscheidung darüber, ob wir in einer Situation eine mobilisierende Kampf-/Flucht-Strategie oder die Strategie des Erstarrens (der Immobilisierung) nutzen, nicht unserem Willen unterliegt. Ohne daß wir es bewußt wahrnehmen, untersucht unser Nervensystem ständig die Sicherheit in der Umgebung und legt aufgrund dieser Einschätzung Prioritäten bezüglich adaptiven Verhaltens fest, die nicht kognitiver Art sind.“

Porges, Stephen W. (2021): Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit – Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. Lichtenau: G. P. Probst Verlag GmbH. S.31.

Während dieselben Reize bei einem Menschen Kampf-/Flucht-Reaktion auslösen, können sie bei einem anderen zu Erstarrungs-Mustern führen. Wie das Gehirn auf Reize reagiert, hängt mit den im Leben gesammelten Erfahrungen durch prägende Ereignisse zusammen. (Traumata entstehen nach der Polyvagal-Theorie vorwiegend dadurch, dass während eines Ereignisses das Defensivsystem für Erstarrung ausgelöst wurde und im Anschluss nicht oder nur teilweise wieder abgeschaltet werden konnte. Die Reizschwelle ist folglich herabgesetzt und das Gehirn sucht laufend und intensiver in der Umgebung nach den „Trigger-Reizen“, die dasselbe Erstarrungs-Reaktionsmuster reaktivieren.)

Das Defensivsystem ist hierarchisch organisiert, da es sich im Laufe der Evolution weiterentwickelt hat. An oberster Stelle in der Hierarchie steht der jüngst entwickelste Teil des Systems: Das System für soziales Engagement (SSE). In diesem Zustand fühlen wir uns entspannt, möchten mit anderen Menschen interagieren und die Ressourcen des Vagussystems widmen sich Heilungs- und Entfaltungsprozessen. Bei geringen Gefahren und entsprechender Resilienz des Menschen bleibt das System aktiv, sodass anhand von sozialer Kollaboration Lösungen entwickelt und die Gefahr gebannt werden kann. Bei größeren Gefahren, denen das SSE nicht gewachsen ist, aktiviert sich das SNS und der Körper bereitet sich auf die Kampf-/Flucht-Reaktion vor. Wenn auch dieses System die Gefahr nicht bannen kann, greift unser Gehirn auf den ältesten Teil des Defensivsystems zurück, der aus dem Reptiliengehirn stammt, den Schaltkreis für Erstarrung (im tierischen Kontext das „Sich-Tot-Stellen“).

Der Weg entlang der Hierarchie zurück in den sicheren Zustand des SSE ist jedoch schwieriger, als der Weg hinab zum Schaltkreis der Erstarrung. Je nachdem welches der drei Systeme entsprechend der Lebensbiographie vorrangig „geschult“ wurde, aktiviert es sich entsprechend schneller und öfter. Wir können also das bevorzugte SSE fördern und stärken, sodass das SNS seltener aktiviert wird. Dennoch ist es wichtig, zu verstehen, dass wir das SNS nicht „loswerden“ oder gar „verteufeln“ wollen. Denn jede Stufe dieses Systems hat seine Daseinsberechtigung und rettet uns im schlimmsten Fall das Leben. Dies anzuerkennen ist wegweisend für den Umgang mit diesen Zuständen, die im Alltag auch fälschlicherweise ausgelöst werden können. Je höher die Akzeptanz, desto leichter der Weg zurück zum SSE.

Welche Schlussfolgerungen müssen wir aus diesen Erkenntnissen für das Bildungssystem ziehen?

„Aufgrund des Drucks, dem wir in unserer kognitionslastigen, cortexzentrierten Welt ausgesetzt sind, versuchen wir, alle Menschen in unserer Umgebung mit immer mehr Informationen zu füttern und so gleichsam ‚zwangszuernähren‘. Dabei übersehen wir, daß unser Nervensystem nur dann kühne Ideen, Kreativität und positives soziales Verhalten entwickeln kann, wenn es sich in einem vom myelinisierten Vagus regulierten Zustand befindet [SSE]. Statt in Schulen das Musizieren, Spiel und Teampsortarten zu fördern und Pausen Raum zu geben, um das System für soziales Engagement anzuregen, lassen wir die Schüler immer länger im Klassenraum sitzen und begründen die Einschränkung der Nebenfächer und entsprechender anderer Aspekte des Schullebens mit dem Einwand, alle diese Dinge würden vom eigentlich wichtigen Lehrstoff ablenken.“

Porges, Stephen W. (2021): Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit – Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. Lichtenau: G. P. Probst Verlag GmbH. S. 83.

Es ergibt sich die Aufgabe, unsere Bildungsräume zuallererst dahingehend zu gestalten, dass sich die Menschen in ihnen sicher fühlen. Dies muss sowohl unter physischen als auch unter psychischen Gesichtspunkten beachtet werden.

Quelle: pixabay.com

Damit wird nicht nur die Grundlage gelegt, dass das Gehirn unter vollem Einsatz seines Potenzials lernen und der Mensch sich entfalten kann, sondern außerdem zur Prävention negativer psychologischer Entwicklungen in diesen wichtigen Jahren der prägenden Entwicklung – der Kindheit und Jugend.

Dabei gilt es außerdem die unterschiedlichen biologischen Entwicklungsphasen des Menschen zu berücksichtigen. Gewisse Gehirnareale, die für die emotionale Selbstregulation, moralische Bewertung und andere emotionale Intelligenzen zuständig sind, werden erst für Erwachsene vollständig verfügbar. Achtsamkeit gegenüber den Kindern und Jugendlichen mit Rücksicht auf ihre Grenzen ist also oberstes Gebot. Ansonsten provozieren wir prägende Ereignisse und gar Traumata, die das SNS sensibilisieren und das SSE schwächen.

„[D]as Nervensystem des Kindes [ist] noch nicht weit genug entwickelt […], um zur Selbstregulation in einem komplexen Setting in der Lage zu sein. Statt also ein tieferes Verständnis der Bemühungen des Nervensystems um die Regulation des Verhaltenszustandes anzustreben und die so gewonnenen Erkenntnisse bei der Gestaltung der Erziehung zu berücksichtigen, versuchen wir, die Motivation durch Bestrafung und Belohnung zu verstärken, um das Verhalten zu verändern, obwohl die neuronalen Mechanismen noch nicht ausreichend entwickelt oder atypisch sind. Strategien dieser Art sind bestenfalls ineffizient.“

Porges, Stephen W. (2021): Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit – Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. Lichtenau: G. P. Probst Verlag GmbH. S. 166f.

Das Kind handelt immer aus dem größtmöglichen Potenzial seines jetzigen Zustands heraus, seiner ihm zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Fähigkeiten. Diesem müssen wir Anerkennung, Wertschätzung, Rücksichtnahme entgegenbringen und in Achtsamkeit darauf reagieren. Es ist unsere Aufgabe, den Heranwachsenden eine wahrlich sichere Umgebung zu bieten und nicht eine Pseudo-Sicherheit zu konstruieren, die aufgrund mangelnden Verständnisses des menschlichen Wesens in den letzten 200 Jahren gewachsen ist. Dahingehend ist es unsere Pflicht gegenüber unseren Kindern, das System radikal zu transformieren, damit unsere Gesellschaft sich endlich in Gesundheit entwickeln und die Menschheit ihr Potenzial entfalten kann.

Einfach ausgedrückt: Wenn ein Kind weint, trösten wir es, egal in welchem Kontext wir uns bewegen – den Konflikt können wir im Anschluss immer noch lösen/ das Handy kann warten/ solange niemand auf der Arbeit in Lebensgefahr schwebt, ist es nicht wichtig/ usw.