Noten ja oder nein? Eine Debatte so alt wie das Bildungssystem an sich

Noten ja oder nein? Eine Debatte so alt wie das Bildungssystem an sich

18. August 2022 1 Von Madita Hänsch

Eigentlich habe ich keine Lust mehr über dieses Thema zu reden oder zu schreiben. Denn ich bin es redlich leid und müde. Doch kürzlich stieß ich auf eine Meldung, die mich Hoffnung schöpfen ließ. In Baden-Württemberg testet das Kultusministerium an zehn teilnehmenden Grundschulen die Schule ohne Noten. Und als ich deswegen die Recherche zu dem Thema wieder aufnahm, war ich noch mehr überrascht, dass es in Hessen seit zwei Jahren den Schulen freigestellt ist, ob sie Noten verwenden oder nicht. Wird in Deutschland tatsächlich endlich der Sinneswandel im Bildungssystem stattfinden?

Ein überflüssiges Experiment beginnt

Was passiert da nun genau in BaWü? Die Schule ohne Noten soll über drei Jahre im Rahmen eines Projekts getestet werden. 39 Grundschulen haben sich freiwillig gemeldet, um daran teilzunehmen. Tatsächlich hat es ab dem Schuljahr 2013/2014 schon einmal ein solches Projekt gegeben, an dem 10 Grundschulen teilgenommen hatten. Dieses Projekt wurde 2017 von der Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) gestoppt.

Nun nimmt die aktuelle Ministerin, Theresa Schopper (Grüne), einen neuen Anlauf. Dabei stößt sie auf reichlich Widerstand und stellt deshalb direkt klar: „Es geht überhaupt nicht darum, dass wir Kuschelpädagogik einführen wollen oder dass uns da der Leistungsgedanke abhandenkommen wird.“ Worum geht es dann? Dazu finde ich während meiner Recherche keine eindeutige Antwort. Dennoch lohnt sich ein Blick auf die Kritiker.

Zunächst Ralf Scholl, Chef des Philologenverbands (der gymnasiale Lehrkräfte vertritt): Schule dürfe nicht zu einem „alleinigen Schonraum“ verkommen. Das Projekt ziele auf die „Maximierung des Wohlfühlens der Kinder auf Kosten des Lernfortschritts.“ (Quelle: news-4-teachers)

Herr Scholl stellt den Lernerfolg über das Wohlbefinden unserer Kinder. Dass er mit dieser Einstellung als Lehrer tätig ist, alarmiert mich. Herr Scholl möchte also auf Kosten des Wohlbefindens auf höheren Lernerfolg setzen? Tatsächlich ist es inzwischen hinreichend erforscht, dass das Wohlbefinden eine Voraussetzung für den Lernerfolg darstellt. Die Formel lautet, je sicherer und zufriedener ich mich fühle, desto besser kann ich lernen. (Plus einige weitere Faktoren, die den Lernprozess beeinflussen, aber das sprengt hier den Rahmen). Davon abgesehen spricht es schlichtweg gegen die Ethik der Menschenrechte und unseres Grundgesetzes, dass das Wohlbefinden weniger Priorität besitzen soll, als ein gewünschter Lernerfolg.

Bildquelle: www.pixabay.com

Und es kommt noch härter mit Herrn Scholl. Er sorge sich um den Erhalt des Leistungsprinzips, weil sich zu viele Lehrkräfte am Prinzip des „Nicht-Beschämens der Schüler“ orientierten. Wer jetzt nicht aus den Latschen kippt, der sollte nochmal seinen moralischen Kompass neu ausrichten. Herr Scholl sagt damit aus, dass er das Beschämen von Kindern in der Schule nicht ablehnt. Herr Scholl sollte nicht nur als Verbandschef zurücktreten, sondern es sollte ihm nicht mehr länger erlaubt sein, als Lehrer zu arbeiten oder in anderen Berufen mit Kindern betraut zu werden.

Atmen wir einmal tief durch und betrachten wir diese Aussagen mit einer gewissen Distanz. So entlarvt Herr Scholl bereits, welche Wirkung Noten tatsächlich ausüben. Sie beschämen und sie schwächen das Wohlbefinden unserer Kinder. Auf die schädlichen Wirkungen von Noten gehe ich gleich genauer ein. Vorher schauen wir uns aber an, woher Noten eigentlich kommen und welche Anforderungen an dieses Instrument ursprünglich gestellt werden.

Objektivität und Vergleichbarkeit sind schlichtweg nicht umsetzbar

Während meines Masterstudiums schrieb ich bereits eine Hausarbeit mit dem Titel „Die Zensur auf dem Prüfstand„. Dort lässt sich das Folgende genauer nachlesen.

„Die Zensur ist ein in Kurzform (Ziffer, Buchstabe, Adjektiv) gefaßtes Urteil des Lehrenden über ein Verhalten des Lernenden. Der Begriff Note wird synonym benutzt.“ (Quelle: Ingenkamp, Karlheinz: Zensuren. Erschienen in: Otto, Gunter & Schulz, Wolfgang (1985): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft – Band 4 – Methoden und Medien der Erziehung und des Unterrichts. Stuttgart: Klett-Cotta. Seite 173-208)

Interessant ist die Betonung, dass das Verhalten beurteilt werde und nicht die Leistung. Diese Betrachtung resultiert aus den historischen Ursprüngen der Zensur, nämlich in dem sogenannten Benefizienzeugnis, welches ein Charakterzeugnis über den Lernenden war und auf Anfrage ausgestellt wurde. Zunächst galt der Zensur also die Aufgabe, das beurteilte Verhalten des Lernenden in einem Rang einzuordnen. Ein pädagogischer Anspruch existierte damals noch nicht. Die Zensur sollte stattdessen im Zuge der Gründung absolutistischer Staaten und der Bürokratisierung als ein Instrument der Selektion dienen, um zum Beispiel Stipendien zu vergeben.

Im Verlauf der Jahrzehnte dichteten Pädagog:innen der Zensur weitere Aufgaben hinzu. Nach Ziegenspeck kann man heutzutage der Zensur vier Grundfunktionen zuordnen. Als Basis dieser Funktionen steht die rangmäßige Einstufung. Dies sind die vier Grundfunktionen:

  • Den Schüler:innen zu mehr Leistung motivieren
  • Berichtsfunktion gegenüber den Eltern
  • Feststellung des Lernstands
  • Den Schüler:innen Orientierung geben

(Quelle: Ziegenspeck, Jörg W. (1999): Handbuch Zensur und Zeugnis in der Schule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt)

Dazu ergänzen wir die bereits aus der Historie festgestellte Selektionsfunktion.

Nun stellt sich zunächst die Frage, kann die Note diesen Ansprüchen überhaupt gerecht werden? Das kann sie nicht. Denn damit diese Funktionen in einem System, das übergeordnet u.a. außerdem den Anspruch hat, Chancengerechtigkeit und das Recht auf Bildung durchzusetzen, darf die Bewertung keiner Willkür unterliegen. Es muss also Objektivität und damit Vergleichbarkeit hergestellt werden. Und genau hier scheitert das Instrument in der Praxis. Studien haben hinreichend belegt, dass die Lehrenden nicht objektiv bewerten (können). Eine Reihe von Effekten konnte beobachtet werden:

  • In unterschiedlichen Fächern wird unterschiedlich streng bewertet
  • Das Geschlecht des Schülers beeinflusst die Bewertung
  • Die soziale Herkunft des Schülers beeinflusst die Bewertung (in der Regel werden Migrationskinder schlechter bewertet)
  • Sympathien des Lehrenden beeinflussen die Bewertung
  • Die Lehrenden vergleichen die Schüler:innen innerhalb der Klasse miteinander, wenn also ein besonders guter Schüler in dieser Klasse ist, werden die anderen schlechter bewertet
  • Die Bewertung wird durch die aktuelle Stimmung des Lehrenden beeinflusst – an einem Tag mit guter Stimmung bewertet er besser
  • Vorurteile beeinflussen die Bewertung des Lehrenden

Damit sind die Berichtsfunktion, die Feststellung des Lernstands und die daraus resultierende Orientierung für den Lernenden hinfällig. Schauen wir noch auf den Anspruch, dass die Note motiviert. Tatsächlich gibt es nachweislich die Möglichkeit, den Menschen zu konditionieren, also mit Strafe und Belohnung zu einem bestimmten Verhalten zu erziehen. Die Note übt sowohl Strafe als auch Belohnung aus. Wobei auch hier Schwankungen bestehen, wenn der Lehrende denkt, er belohnt eine:n Schüler:in, empfindet diese:r es ggf. doch tatsächlich als Strafe.

Die Konditionierung hat jedoch eine Nebenwirkung. Sie verschiebt den Fokus der betroffenen Person auf die Belohnung. Der Lernende interessiert sich nach einer Weile nicht mehr für den Lerngegenstand, sondern nur noch für die Belohnung. Das sind ganz simple biochemische Prozesse in unserem Körper. Die kurzfristige Belohnung triggert die Ausschüttung von Dopamin, dem Glückshormon. Die Suchtwirkung von Dopamin ist stärker, als die von Heroin. Und weil das Interesse an der Belohnung stärker wird, als an dem Lerngegenstand selbst, wird dieser nicht im Langzeitgedächtnis verankert. Sobald die Belohnung erreicht wurde, kann das Mittel zum Zweck (= Lernstoff) gelöscht werden, schließlich möchte das Gehirn stets Energie sparen. Ja, Noten motivieren, aber nicht dazu, mehr zu lernen, sondern dazu, mehr Dopaminspritzen erhalten zu wollen.

Wenn wir also feststellen können, dass das Instrument Note nicht den Anforderungen gerecht werden kann, die an es gerichtet werden, wieso wird sie noch eingesetzt? Wenn ich feststelle, dass mein Boot leckt, segle ich schließlich auch nicht weiter damit um die Welt, da ich sonst ertrinken würde.

Und Noten versagen nicht nur darin, den ihnen zugeschriebenen Aufgaben gerecht zu werden. Darüber hinaus richten sie außerdem Schaden an der Gesundheit unserer Kinder an.

Das Leistungsprinzip kann der Gesundheit unserer Kinder schaden

Noten sind ein Produkt des Leistungsprinzips. Dazu gehören Vergleichbarkeit, Objektivierung und das Gesetz des Stärkeren. Tatsächlich sind die Parallelen zum Darwinismus offensichtlich. Wer an das Leistungsprinzip glaubt, ist davon überzeugt, dass es an der Spitze nur Platz für wenige Menschen gibt und dass auf dem Weg dorthin selektiert werden muss. Klingt erstaunlich genau wie eine Beschreibung unseres deutschen Schulsystems, nicht wahr?

Tatsächlich wurde Darwins These, dass die Evolution durch Selektion und Zufallsmutationen angetrieben wird, bereits in den 90ern widerlegt (und trotzdem wird es so noch im Biologieunterricht gelehrt, aber das ist ein anderes Thema). Tatsache ist, dass bis in die Gen- und Zellforschung hinein belegt werden konnte, dass die Evolution durch Kooperation und Kreativität angetrieben wird. Und die Psychologie, Soziologie, Anthropologie und Neurowissenschaft beweist, bezogen auf den Menschen, sogar, dass unser Gehirn sozial ist, dass unsere Biochemie auf Kooperation ausgelegt ist und dass wir Menschen deshalb an der Spitze der Nahrungskette stehen, weil wir so gut zusammenarbeiten und voneinander lernen können.

Das Leistungsprinzip steht im krassen Widerspruch dazu. Es ist wider unserer Natur. Und deshalb macht es uns krank – und weil unser Schulsystem größtenteils davon durchdrungen ist, macht es systematisch unsere Kinder krank.

Die Formel ist ganz einfach. Die Hormone, die uns langfristig zufrieden machen und unsere Gesundheit stärken, Serotonin und Oxytocin, werden durch Erfolge, die in Kooperation erzielt werden, verstärkt ausgeschüttet. Konkurrenz und Leistungsdruck triggern stattdessen Cortisol, das Stresshormon. Der langfristige Einfluss von Cortisol hemmt unsere sozialen Fähigkeiten, wie Empathie und Mitgefühl, es hemmt unser Immunsystem und andere wichtige Prozesse im Körper. Cortisol macht auf Dauer krank.

Die schädigenden Wirkungen sind vielfältig. Und sie geschehen schleichend. Aber in unserer Wissensgesellschaft werden sie in den Statistiken sichtbar. Im allgemeinen Sprachgebrauch nennt man sie auch „Volkskrankheiten“.

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An dieser Stelle möchte ich einen genaueren Blick auf eine Krankheit werfen, die spezifisch für Schulkinder ist: die Schulangst. Aktuelle Zahlen konnte ich leider nicht finden, aber zuletzt sprach man von 10 % der Schüler:innen in Deutschland, die unter Schulangst leiden. Diese Kinder haben teils so große Angst, in die Schule zu gehen, dass sie körperlich echte Symptome spüren, obwohl sie physisch gesund sind. Die häufigsten Symptome sind Übelkeit (teils bis zum Erbrechen), Kopfschmerzen und Bauchschmerzen, aber auch depressive Stimmungen. Als Ursache sehen Psycholog:innen Leistungsangst oder soziale Ängste, die sich in Schulangst ausdrücken. Hervorgerufen werden sie also durch Leistungsdruck und ein unsicheres soziales Umfeld.

Ein Schulsystem, dass an dem Leistungsprinzip festhält, fördert Konkurrenz unter den Lernenden. Es erzeugt Stress, was wiederum die Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl hemmt. Es entsteht ein sozial unsicheres Umfeld, das im Extremen in Fällen von Mobbing und Diskriminierung zutage tritt. Der Leistungsdruck setzt dieser Stresssituation noch hinzu. Dieser Druck kommt aber nicht allein aus der Schule, sondern wird durch die Eltern teilweise zusätzlich getragen und damit auch im familiären Umfeld verstärkt. Die Kinder können im schlimmsten Fall keinen sicheren Hafen mehr finden. Sie werden psychisch krank und das gesamte Konglomerat an schädlichen Auswirkungen macht sie langfristig auch körperlich krank, weil das biologische System auf Dauer unter diesem Stress verschleißt.

Ich denke, ich habe den Standpunkt deutlich gemacht. Schauen wir also auf die Möglichkeiten, die uns offen stehen, wenn wir dem Leistungsprinzip und den Noten endlich den Rücken kehren wollen.

Sichere Lernräume sind keine „Kuschelpädagogik“ sondern Voraussetzung für Wohlbefinden und damit Lernerfolg

Wer das Wort „Kuschelpädagogik“ verwendet, bedient sich schlichtweg einem Vorurteil und hat sich nicht mit den fortschrittlichen Lernkonzepten, die die Wissenschaft und Best Practice inzwischen reichlich hervorbringen, auseinandergesetzt.

Schauen wir nach Finnland, dem langjährigen Spitzenreiter bei PISA. Hier gibt es frühestens ab der 9. Klasse Noten, nämlich wenn die Schulabschlüsse anstehen. Und die derweil angewendeten Alternativen sind keine schriftlichen Bewertungen (quasi Noten im Deckmantel), sondern Methoden der gemeinsamen Reflexion. Das sind zum Beispiel Gespräche zwischen Lehrenden und Lernenden, zwischen Lernenden und gemeinsame Gespräche des Lehrenden mit dem Lernenden und den Eltern. Dreh- und Angelpunkt der Gespräche sind die individuellen Lernziele des Kindes. Sie werden evaluiert und neu justiert. Der Lernende schätzt sich selbst ein, der Lehrende gibt dazu seine Expertenmeinung und im Gespräch mit den Eltern wird eine weitere Perspektive hinzugewonnen.

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Außerdem steht Kooperation anstatt Konkurrenz im Zentrum des finnischen Schulsystems und entsprechend werden Lerninhalte, Methoden und sozialer Umgang darauf ausgerichtet. Selbst räumlich spiegelt sich dieses Konzept in moderner Architektur wider, indem Lernräume geschaffen werden, dessen Mobiliar auf Zusammenarbeit ausgerichtet ist. Wer mehr darüber erfahren will, kann einen Blick auf die Broschüre des finnischen Bildungsministeriums werfen: Finnish Education in a Nutshell.

Auch in Deutschland gibt es zahlreiche Schulen, die beweisen, dass es ohne Noten besser geht – und ohne das Leistungsprinzip sowieso. Zum Beispiel die berühmte ESBZ, die lange Zeit von Bildungspionierin Margret Rasfeld geleitet wurde. Europa und die Welt sind voll von alternativen Schulsystemen, die nicht im Widerspruch mit unseren Grundrechten stehen und dennoch die größten Erfolge erzielen. Es ist völlig überflüssig, dass wir weiter debattieren und mit Projekten wie in BaWü experimentieren. Das Wissen ist bereits akkumuliert, die Studien durchgeführt und die Best Practices erprobt worden. Jetzt müssen wir einfach nur noch machen.