Sicherheit und Vertrauen
Aus „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel“ von Madita Hänsch
Gefühle, und was sie auslöst, sind höchst individuelle und subjektive Phänomene. Je nachdem, welche Erfahrungen wir in unserem Leben machen, verknüpfen wir mit denselben Dingen, Orten und Menschen sehr unterschiedliche Gefühle. Wer eine glückliche und zufriedene Schulzeit erlebt hat, verbindet auch heute noch diese Gefühle mit dem Schulgebäude. Wer im Gegenteil dazu eine unglückliche und nervenaufreibende Schulzeit durchlebt hat, möchte das Schulgebäude vermutlich möglichst nie wieder betreten. Ebenso kann auch innerhalb desselben Schulgebäudes ein Raum Grauen auslösen und ein anderer Freude verursachen. Diese Verknüpfungen von Gefühlen können mit Farben, Gerüchen, Personen und ganzen Räumen und Umgebungen entstehen. (vgl. https://posttraumatische-belastungsstoerung.com/trauma-trigger)
Stehen wir also vor einer unmöglichen Aufgabe, Bildungsräume so zu gestalten, dass sie jedem Individuum Sicherheit und Vertrauen schenken?
Ein interdisziplinärer Blick auf die verschiedenen Faktoren ermöglicht es uns, ein paar grundlegende Prinzipien zur Raumgestaltung zu erkennen, die unbewusst auf ähnliche Weise auf jeden Menschen wirken. Dennoch, bei all dieser Datenlage besteht selbstverständlich stets eine Möglichkeit, dass sich Menschen trotzdem nicht sicher und wohl in einer bestimmten Umgebung fühlen. Doch lassen wir uns auch hier von Ken Wilber inspirieren: ein wenig Sicherheit ist besser als keine.
Warum ist es wichtig, sich die Mühe zu machen, um Sicherheit und Vertrauen in Lernräumen zu schaffen?
Angst blockiert die Gehirnfunktionen, die wir zum Lernen brauchen. Diese Erkenntnis hat uns die moderne Neurowissenschaft offenbart. Stephen W. Porges hat dazu die Polyvagal-Theorie entwickelt:
Die Polyvagal-Theorie hilft uns zu verstehen, daß es für uns alle eine biologische Notwendigkeit ist, mit anderen Menschen verbunden zu sein und gemeinsam mit ihnen die Fähigkeit zur Co-Regulation zu entwickeln. Wir erleben diese Notwendigkeit als eine uns inhärente Suche nach Sicherheit, die nur durch soziale Beziehungen, in denen wir Verhalten und Physiologie gemeinsam regulieren, zum Erfolg führen kann. Wollen wir uns die Bedeutung des Gefühls der Sicherheit in unserem Leben vergegenwärtigen, wird uns klar, daß das Verständnis der physiologischen Signaturen von Gefühlen und die Signale, die Gefühle und Empfindungen auslösen, uns helfen können, unsere Beziehungen zu verbessern und unsere Klienten, Familienangehörigen und Freunde zu unterstützen. Wenn wir der biologischen Notwendigkeit, das Gefühl der Verbundenheit zu pflegen, gerecht werden wollen, müssen wir dem Bemühen, anderen Menschen zu vermitteln, daß sie in Sicherheit sind, absolute Priorität einräumen.
Porges, Stephen W. (2021): Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit – Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. Lichtenau: G. P. Probst Verlag GmbH. S. 28.
Damit der Mensch sich sicher fühlen kann, braucht er die Verbundenheit zu anderen, während er außerdem auf die Anerkennung seiner Würde durch sich und andere angewiesen ist und Resonanz erleben können muss. Damit ein Mensch in Verbundenheit zu anderen treten kann, muss er sich sicher fühlen, durch sich und andere in seiner Würde anerkannt werden und Resonanz spüren können. Damit ein Mensch Resonanz erleben kann, muss er sich sicher, in seiner Würde anerkannt und in Verbundenheit fühlen. Und damit ein Mensch seine Würde durch sich selbst und andere anerkennen kann, muss er sich selbst erkennen können, indem er sich sicher fühlt, in Verbundenheit leben und Resonanz erleben kann.
Zurück zur Frage, welcher Zusammenhang zwischen Sicherheit und Lernen besteht. Porges beschreibt diesen wie folgt:
Sicherheit ist wichtig, wenn man Menschen ermöglichen will, ihr Potential besser zu nutzen. Zustände der Sicherheit sind eine Voraussetzung nicht nur für soziales Verhalten, sondern auch für die Nutzung jener höheren Gehirnstrukturen, die es Menschen ermöglichen, kreativ und produktiv zu sein.
Porges (2021): S. 24f.
Wenn der Mensch sich nicht sicher fühlt, verwendet er, je nach Grad der Unsicherheit, entsprechend viel Energie darauf, die Umgebung nach Gefahren abzusuchen. Der Lernprozess ist ein energieintensiver Vorgang im Gehirn, da hierbei neuronale Verknüpfungen gebaut werden. Wir sprechen nicht ohne Grund beim Lernen von Denksport.
Wenn der Körper jedoch registriert, dass er sich in einer unsicheren Umgebung befindet, liegt die Priorität unseres Systems zuallererst darin, das Überleben zu sichern. Je höher die Gefahr, desto mehr Energie wird in dieses Ziel investiert, und entsprechend weniger Energie steht für vergleichsweise luxuriöse Funktionen, wie dem Lernen oder dem sozialen Austausch, zur Verfügung.
Unser Nervensystem untersucht ständig, wie sicher unsere Umgebung ist. Je nachdem, wie es den Sicherheitsgrad bewertet, legt es die Prioritäten der uns zur Verfügung stehenden Funktionen unseres Körpers fest.
Angst blockiert höhere kognitive Funktionen und damit das Lernen.
Empfindet ein Mensch Angst, stehen ihm mehrere Defensivstrategien zur Verfügung (vgl. Porges (2021): S. 71ff). Anhand der eben erläuterten Bewertung und Priorisierung der Funktionen des Systems wird unbewusst entschieden, welche Defensivstrategie angewendet wird. Dabei unterliegen diese Strategien einer hierarchischen Ordnung. Der älteste Bereich unseres Gehirns ist das Reptiliengehirn. Hier liegt die Strategie des Erstarrens, oder der Immobilisierung. Dieser Bereich wird als allerletzte Maßnahme aktiviert, wenn die anderen Strategien bereits scheitern. Im Laufe der Evolution und im Zuge der Weiterentwicklung unseres Gehirns kam die nächste Strategie hinzu, nämlich das Kampf- oder Fluchtverhalten, oder die Mobilisierung.
Darüber hinaus steht uns eine weitere Strategie zur Verfügung, die beinahe einzigartig für die Art Mensch ist: im sozialen Austausch kreative Lösungen entwickeln. Die dafür benötigten höheren Gehirnfunktionen stehen uns allerdings nur dann zur Verfügung, wenn wir uns eher sicher fühlen, also momentan keine Gefahr für Leib und Leben registrieren.
Aufgrund der Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens macht, können dieselben äußerlichen Reize bei jedem Menschen eine andere Defensivstrategie auslösen. Gerade traumatische Ereignisse führen in der Regel dazu, dass Gerüche, Farben, Geräusche oder andere Reize augenblicklich zur Aktivierung des Reptiliengehirns, also zur Erstarrung führen. Ebenso ist es möglich, dass manche Menschen in einer bedrohlichen Situation “einen kühlen Kopf bewahren” können und dazu in der Lage sind, Lösungen zu entwickeln, während sich andere in derselben Situation eher auf Kampf- oder Flucht vorbereiten.
Damit kommen wir zurück zum Lernen:
Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die aktuellen Entwicklungen im Schulsystem. Aufgrund des Drucks, dem wir in unserer kognitionslastigen, cortexzentrierten Welt ausgesetzt sind, versuchen wir, alle Menschen in unserer Umgebung mit immer mehr Informationen zu füttern und so gleichsam ‚zwangszuernähren‘. Dabei übersehen wir, daß unser Nervensystem nur dann kühne Ideen, Kreativität und positives soziales Verhalten entwickeln kann, wenn es sich in einem vom myelinisierten Vagus regulierten physiologischen Zustand befindet [die Umgebung ist sicher].
Porges (2021): S. 83.
Weiter geht es in „Bildung 4.0 – Eine Vision für den systemischen Wandel“. Das vollständige Buch kannst du kostenfrei hier abrufen: https://docs.google.com/document/d/15bTj8qyzC0HLpzr6ETigBSrhdXqIsEUIkW0uQKB5z8w/edit?usp=sharing