Beschämung in der Pädagogik und die Folgen
Beschämungen in der Pädagogik treten auch 2024 auf. Sie sind subtiler geworden, denn körperliche Züchtigung ist seit Jahrzehnten verboten. Dass diese Beschämungen geschehen und tiefe Narben in den jungen Seelen hinterlassen, darüber reden wir aktuell zu wenig.
Prüfungskultur
Im Verlauf dieses Buchs wurde bereits mehrfach wiederholt, dass sich die Lernraumgestaltung und die inhaltlichen Schwerpunkte in diesen Lernräumen radikal verändern müssen, indem sie nicht länger nach Standardisierung und messbarer Vergleichbarkeit und ergebnisorientiert sind, sondern bedürfnisorientiert, würdevoll und prozessbegleitend werden. Damit einher geht die Notwendigkeit zur Änderung der Prüfungskultur. Nicht nur der bereits empfohlene Abschied der Notengebung ist erforderlich, sondern auch die Formate von Prüfungen.
Meta-Curriculum
Einer ganzheitlichen nationalen Bildungsstrategie folgend, brauchen wir ein Meta-Curriculum, das in ein Bildungsökosystem des 21. Jahrhunderts passt, also Anwendung von der Vorschule bis zur Berufsschule bzw. Hochschule findet und hier Verbindlichkeit schafft.
Dieses Meta-Curriculum muss außerdem Raum für regionale Spezifikationen und persönliche Lernziele lassen.
Chancengleichheit
Neben der Veränderung der Arbeits- und Lernkultur in unseren Systemen, die in den vorherigen Kapiteln ausführlich thematisiert wurden, braucht es tiefgreifende strukturelle Veränderungen im System, um mehr Chancengleichheit zu ermöglichen. Die Dreigliedrigkeit behindert systematisch dieses Streben. Deshalb spreche ich mich für die Einheitsschule aus, die außerhalb von Deutschland die Regel ist und beweist, dass sie auch in Ländern mit heterogenen Bevölkerungsgruppen funktioniert – wenn die Förderung von leistungsstarken und leistungsschwachen Schüler:innen durch Unterstützungsprogramme umgesetzt wird, die fest in den Schulalltag integriert werden.
Nationale Bildungsstrategie
Die nationale Bildungsstrategie sollte nach dem Vorbild von Ländern wie Estland auf wissenschaftlichen Studien basieren, unter Einbezug der Öffentlichkeit mitgestaltet und von Expert:innengruppen gründlich erarbeitet werden, die über den Turm zu Babel der KMK und SWK hinausgehen, indem auch Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte, Eltern, die Wirtschaft, Unternehmensvertretungen aus dem Bereich der Bildung, und Lernende mit einbezogen werden. Sie muss außerdem Schnittstellen zu Policies wie den SDGs der UN oder dem OECD-Lernkompass aufweisen. Und sie braucht eine Vision, die zum Handeln inspiriert.
Der inklusive Raum
Inklusion ist eine Haltung und eine Aufgabe (engl. commitment). Als Gesellschaft haben wir die Aufgabe, unsere öffentlichen Räume inklusiv zu gestalten, das heißt, sie so zu gestalten, dass jede:r teilhaben kann. Zu diesen öffentlichen Räumen gehören auch unsere Bildungshäuser, unsere Kitas, Schulen, Berufsschulen, Universitäten, Hochschulen, Volkshochschulen und weitere öffentliche außerschulische Lernorte.
Um diese Lernräume inklusiv zu gestalten, ist mehr gefordert als eine entsprechende räumliche Ausstattung. Vor allen Dingen braucht es eine inklusive Haltung von unseren pädagogischen Fachkräften und Lernbegleitungen sowie allen anderen an der Gestaltung des Systems Beteiligten.
Dabei ist es zu kurz gedacht, bei der Inklusion den Fokus auf Menschen mit Beeinträchtigungen zu legen. Inklusion umfasst uns alle, mit unseren vielfältigen sprachlichen, kulturellen, physiologischen und psychischen Grenzen.
Der digitalisierte Raum
Während Estland bereits in den 90er-Jahren alle seine Schulen digitalisiert hat und Informatik und Robotik usw. fester Bestandteil des Lernplans geworden sind, gibt es in 2024 nach wie vor Bildungshäuser in Deutschland, die kein Wlan haben. Trotz dieses desaströsen Zustands besteht heute die Chance, unsere Bildungshäuser jetzt mit Sinn und Verstand zu digitalisieren, da wir uns auf die Studien, Daten und Erfahrungen unserer Nachbarländer berufen können. Demnach zeichne ich im Folgenden ein Bild von der Vielfalt und den Potenzialen digitalisierter Lernräume, die bereits erfolgreich Anwendung finden und sich bewährt haben.
Der wertfreie Raum
Vor allen Dingen die Bewertung durch Noten und die Belohnung mit Zertifikaten und Abschlüssen verlagert systematisch die Motivation zum Lernen vom Inneren ins Äußere. Wir erziehen unsere Kinder im Kontext des Lernens dahin, dass sie Wissen haben wollen, anstatt wissend zu sein.
Spätestens durch den Einzug von Künstlicher Intelligenz ist es so offensichtlich wie nie zuvor, dass das Auswendiglernen und Wiedergeben von Informationen im Gleichschritt und nach standardisierten Leistungsmaßstäben obsolet geworden ist. Das, was den Menschen im Gegensatz zur KI noch erfolgreich macht, sind seine ihm angeborenen Fähigkeiten zur Kreativität, Kommunikation und Kooperation.
Der Grenzraum
Je nachdem, welche Dimension unseres Selbst wir betrachten, ist es unser Ziel, unsere Grenzen zu verteidigen oder sie aufzulösen. Betrachte ich mein Grundbedürfnis nach Autonomie, dann verteidige ich hier meine Grenzen. Betrachte ich mein Grundbedürfnis nach Verbundenheit, dann ist es mein Streben, Grenzen aufzulösen.
Im Kontext des Lernraumdesigns für Kita und Schule, ist es die Aufgabe der Lebens- und Lernbegleitungen, ihre Schützlinge darin zu unterstützen, ihre individuelle Balance zwischen der Verteidigung innerer Grenzen und dem Auflösen äußerer Grenzen zu finden, und in der Selbstreflexion diese Grenzen laufend neu zu definieren.
Der Erfahrungsraum
Aktuell stellen sich Bildungshäuser als vornehmlich von ihrer Umwelt isolierte Gebäude dar, die auch in ihrer Konzeption und ihren Lernplänen wenig bis keine Schnittstellen zur Außenwelt bieten. Gerade für die Zielgruppen Kinder und Jugendliche wird dafür das Argument vorgebracht, ihnen damit Schutzräume zu bieten.
Doch zum einen versagt das System kolossal darin, als Schutzraum tatsächlich zu fungieren, und zum anderen ist damit unseren Schützlingen nicht geholfen, weil es unser Auftrag ist, sie auf die reale Welt vorzubereiten und sie dazu zu befähigen, sich darin selbstwirksam bewegen zu können.
Anstatt eine Isolation der Bildungshäuser anzustreben, empfehle ich daher, eher eine schützende Membran anzuwenden, die durchlässig bleibt für die Einflüsse der realen Welt. Diese Membran sollte auch kein Filter sein, der nur “unschädliche” Einflüsse zulässt. Stattdessen stellen wir sie uns als eine unsichtbare Grenze vor, die wir mithilfe unserer Verantwortung als Lebens- und Lernbegleitungen ziehen. Anstatt isolierter Schutzräume bieten wir Rückzugsräume, Experimentierräume und Begegnungsräume, in denen wir die Rahmenbedingungen bestimmen, sodass die “schädlichen” Einflüsse soweit an Macht verlieren, damit sich unsere Schützlinge mit ihnen auseinandersetzen können, den Umgang mit ihnen lernen können, ohne sich unnötigen Risiken auszusetzen – genauso, wie wir Schutzkleidung anziehen, bevor wir im Chemieunterricht experimentieren, aber nicht, indem wir die Experimente nur in der Theorie behandeln.