Virtual Experiences ziehen mit Heartucate in die Schulen ein – Interview mit Gründerin Franziska Weser

Virtual Experiences ziehen mit Heartucate in die Schulen ein – Interview mit Gründerin Franziska Weser

26. Juni 2022 0 Von Madita Hänsch

Franziska Weser gründete Heartucate gemeinsam mit weiteren Bildungsinnovator*innen, um virtuelle Abenteuerreisen in die Schulen zu bringen und damit außerdem moderne Lernparadigmen – mithilfe von Augmented Reality. In diesem Interview erzählt sie mir von ihrer Vision hinter der Unternehmung.

Liebe Franziska, beginnen wir am Anfang: Wie definierst Du Bildung?

Bildung ist für mich ein ganzheitlicher Prozess, der fluide und somit zu jeder Zeit stattfindet, ohne dass uns dies wirklich zu allen Zeiten ganz bewusst ist. In meinem Studium der Medienpsychologie drehte sich alles um die Wissenschaft der morphologischen Psychologie, die davon ausgeht, dass alles Seelische ständigen Wandlungsprozessen unterliegt und sich auf unterschiedliche Art und Weise zeigt. Im Grunde genommen sind wir auf der Welt, um sie zu er-LEBEN. Verbunden mit meiner Tätigkeit als Medienpädagogin hieß das für mich, dass man über die Integration bestimmter kompetenzfördernder Strukturelemente eine Atmosphäre erschaffen kann, die zu einer Bildung von „innen“ heraus führt. Das funktioniert, in dem man eine Atmosphäre erschafft, welche die natürliche seelische Ausbreitung unterstützt, statt sie zu blockieren. Diese Bewegung von innen heraus ist für mich der eigentliche Sinn und auch das Spannende von „Bildung“.

Was ist Deine Vision?

Damit Bildung von innen heraus stattfinden kann, braucht es natürlich auch äußere Faktoren, die auf einen wirken und an denen man sich selbst erlebt. Aktuell erleben viele Menschen: ich bin defizitär, ich bin nicht genug, ich bin im Vergleich schlechter als andere. Weil sie sich in einem System befinden, das auf Vergleich und Konkurrenzdenken angelegt ist. Und genau diese Energie wird dann ein Leben lang weitergetragen. Viele Menschen glauben ein Leben lang, dass sie nichts können und auch nie etwas erfolgreich absolvieren werden können. Dabei verfügt jede/r über in ihm oder ihr angelegte Talente und Fähigkeiten, die nur darauf warten, zum Wohle aller zum Einsatz zu kommen. In meiner Vision müssen Menschen nicht mehr ihr Leben damit verbringen, ihren Selbstwert zu erhalten, sondern können direkt in die Potenzialentfaltung starten.

Wir unterstützen uns gegenseitig, in unser Potenzial zu finden und von da aus an gemeinsamen Zielen zu arbeiten. Es gibt echten Zusammenhalt in der Gesellschaft und echte Solidarität füreinander. Aus einer defizitären Schames- und Fehler-Kultur entsteht eine Kultur der echten Wertschätzung für uns selbst und für die uns innewohnenden Fähigkeiten und Talente. Auf die Bildung bezogen hieße das, ein System der Bewertung und des Vergleichs zu ersetzen mit einem System, das einem Leitplanken zur eigenen Entfaltung bietet und in dem man mit sich in Kontakt kommt und bleibt. Ein System, das öfter fragt: „Wie siehst du diesen Sachverhalt?“ oder „Was ist deine Perspektive?“

Inwiefern spielt Heartucate für Deine Vision eine Rolle?

Heartucate gibt den oben genannten immateriellen Überzeugungen einen erlebbaren Rahmen und macht sie somit greifbar. Mit Hilfe Neuer Technologien – also der neusten technischen Entwicklungen – ist es möglich, an einer Stelle Expertisen zu sammeln und digitale Umgebungen zu entwickeln, die zu einem ganz explizit anderen Erleben führen, was Lernen angeht. Bei uns erleben Kinder und Jugendliche, dass sie autark in einem Team unterwegs sind und in ihrem eigenen Tempo eigene Erfahrungen sammeln müssen. Sie müssen Lösungen für auftretende Probleme finden und erleben sich selbst als wichtigen Part innerhalb einer Gruppe, ohne den das gemeinsame Ziel nicht erreicht werden kann. Es geht also weniger darum, individuell spezifische Informationen aufzunehmen, sondern diese im Kontext und in der Gruppe einzubringen und zu verhandeln. Die Lehrperson ist dabei nur unterstützend dabei und greift sonst nicht weiter in das Geschehen ein. So können auch erst einmal autark eigene Erfahrungen in der Gruppe gemacht werden, die im Anschluss reflektiert werden können. Lernen wird mit einem Erfolgserlebnis in der Gruppe verbunden und spricht die intrinsische, kindlichere Motivation in uns an, die Welt entdeckend zu erforschen.

Wie wollt ihr mit Heartucate das Bildungssystem transformieren bzw. beeinflussen?

Wir wünschen uns, dass Heartucate kein außerschulisches Angebot darstellt, sondern seinen Platz in der vorherrschenden Struktur findet und diese von innen heraus transformiert. Dafür haben wir von Anfang an die Anbindung an den schulischen Alltag gesucht und die Entwicklungsprozesse weitgehend an der aktuellen Struktur ausgerichtet. Wir wissen, wie wichtig es ist, von Anfang an Akteure im Bildungsalltag mitzunehmen, denn wir alleine werden keine Bildungstransformation leisten können. Deshalb suchen wir für weitere Entwicklungen nach Testinstitutionen, in denen Lehrpersonen sich an allen weiteren Prozessen einbringen können. Wir arbeiten aktuell auch an einem Fortbildungsangebot für die Begleitpersonen der Heartucate Experiences. Inhaltlich soll es hier vor allem auch um die Vermittlung von kollaborativen Kompetenzen gehen, also konkret: wie erschaffe ich eigentlich auch mit analogen Mitteln und Methodiken eine kollaborative und wertschätzende Lernkultur, in der sich Heartucate einbetten lässt? Hier kann man auch als LernbegleiterIn kreativ werden und sich entweder aus einem Fundus bedienen (Plakate basteln zum Klimawandel „Was können wir hier tun?“, TED-Talks konzipieren oder nachhaltige Start-Ups entwickeln usw.) oder selbst Methoden beisteuern. Wir setzen uns auch in der LehrerInnen-Ausbildung mit diesem neuen Paradigma auseinander und entwickeln gerade zusammen mit Partnern dafür ein geeignetes Fortbildungsangebot, das auf die Vermittlung von kollaborativen und kreativen Fähigkeiten setzt. Wir glauben, dass wir wichtige Impulse setzen können, aber für die Umsetzung auf ein breites Unterstützernetzwerk aus Industrie, Bildung und Bevölkerung angewiesen sind.

Kannst Du genauer beschreiben, welche Möglichkeiten sich mit VR und AR für die Bildung eröffnen?

Mit Hilfe von Neuen Technologien lassen sich die in der Pädagogik so wichtigen „Primarerfahrungen“ zumindest angedeutet nachempfinden. Primarerfahrungen sind alle Erfahrungen, die wir ganz praktisch im Leben sammeln, an denen wir also unsere Fähigkeiten in der direkten Anwendung erleben können. Neue Technologien geben uns nun die Möglichkeit, diese Erfahrungen zu simulieren, also ganz bewusst Inhalte zu schaffen, an denen man bestimmte Zusammenhänge erleben oder in denen gesteuert Erfahrungen gemacht werden können. Man könnte schon fast sagen: mit Neuen Technologien können wir den Erfahrungsschatz der Menschen auf eine Weise beeinflussen, der einzigartig in der Geschichte der Menschheit ist. Bisher waren wir darauf angewiesen, was uns die Welt an Erfahrungen beschert. Nun können wir selbst diese Welten mitgestalten. Aus meiner Sicht ist dies ein lange Zeit unterschätztes mediales Mittel, das in den falschen Händen viel Schaden anrichten kann. An dieser Stelle ist es immens wichtig, wer diese Inhalte gestaltet und zu welchem Zweck. Aus unserer Perspektive ist dies der ideale Zeitpunkt, um Inhalte zu konzipieren, die auf eine kollaborativere Lernkultur ausgerichtet sind und diesen Zweck auch verfolgen. Wir richten unsere Energie dabei bewusst auf die Entwicklung von Inhalten für Augmented Reality (also erweiterte Realität), da diese Technologie den Bezug zum Realraum und somit zur Realität erhält. Virtual Reality hingegen birgt die Gefahr, sich allein in individuellen virtuellen Realitäten zu bewegen ohne Bezug zur Realität und ohne gemeinsame Erlebensmomente.

Zum Schluss: Wo siehst Du Heartucate und das Bildungssystem in fünf bis zehn Jahren?

Wir hoffen, dass wir mit Heartucate gute Impulse und erste Anwendungsmöglichkeiten bieten können, um eine kollaborativere Lernkultur auch kollektiv hervorzubringen. Bereits jetzt existieren sehr viel Initiativen, die sich auf ähnliche Wege wie wir aufmachen und Bildung transformieren möchten. Wir können mit dem Einsatz von Heartucate bereits erste Evaluierungen vornehmen, was eine solche Lernkultur auch in der Breite mit uns und unserer Kultur macht. Daraus lassen sich wieder neue Ableitungen in Bezug auf das bestehende System vornehmen. Aus unserer Sicht wird sich das Bildungssystem immer mehr dahin entwickeln, dass Lernen in Kleingruppen in Themenkomplexen oder Projekten stattfindet. Man wird mehr und mehr zu qualitativen Bewertungen übergehen, die Stärken und Schwächen des Individuums erfassen und zu Potenzialentfaltung hin anregen. Es wird eine wertschätzendere Kultur miteinander geben und eine, die von mehr Arbeit im Team geprägt ist, als bisher. Schlussendlich benötigen wir für aktuelle Probleme (Klimawandel, Globalisierungsfolgen o.ä.) gemeinschaftlich erarbeitete Lösungen. Das Bildungssystem sollte auf diesen größeren Zweck hin ausgerichtet sein und wird sich immer mehr in diese Richtung hin entwickeln, da es so evolutionär gesehen für uns alle den größten Nutzen hat.

Vielen Dank und weiterhin viel Erfolg!